Die Auserwählten
Tempel der Hatschepsut in Luxor 1997 überraschte die jemenitischen und ägyptischen Behörden vollkommen. Die Aktionen waren bis ins letzte Detail durchdacht. Niels kannte den jüngsten Fall in Ägypten erschreckend genau. Eine Freundin von Kathrine hatte den Tempel zwei Tage vor dem Angriff besucht. Es war ein grauenvolles Blutbad, bei dem zweiundsechzig Touristen ermordet wurden. Den meisten wurde erst in die Beine geschossen, damit sie nicht mehr fliehen konnten, bevor sie wie bei einem Ritual mit langen Messern abgeschlachtet wurden. Die Terroristen ließen sich viel Zeit. Hilflos lagen die europäischen Touristen in und vor dem Tempel und warteten darauf, dass sie an der Reihe waren. Man geht davon aus, dass das Morden fünfundvierzig Minuten gedauert hat. Unter den Toten war auch ein fünfjähriger englischer Junge. Eine Frau aus der Schweiz musste zusehen, wie ihr Mann enthauptet wurde. »Keine Touristen in Ägypten«, stand auf einem Zettel, der im Magen eines älteren Japaners gefunden wurde. Die Terroristen hatten ihm die Eingeweide aus dem Bauch geschnitten.
»Passen Sie doch auf!«, schrie eine Frau Niels hinterher. Er hatte sie gestreift, und ihr war ein Päckchen aus der Hand gerutscht. »Was soll das denn?«
Die Menschen hatten absolut keine Ahnung, dachte Niels. Sie spazierten durch ihre Märchenwelt, wandelten zwischen Weihnachtsbäumen und Girlanden hindurch und kauften Weihnachtsgeschenke. Nirgendwo auf der Welt ließen sich Gefahren derart gut verdrängen wie in Kopenhagen zur Weihnachtszeit.
Der Rundetårn. Niels traute seinen Augen nicht, als er Abdul Hadi nach rechts in den Rundetårn laufen sah. War das ein Versuch, sich unter all den Leuten zu verstecken? Niels rannte ihm hinterher. Er stürmte am Ticketschalter vorbei, ignorierte das Rufen des jungen Mannes hinter der Luke und hastete weiter. Nach oben. Fast wäre er auf den glatten Steinen ausgerutscht. Weiter. Immer weiter über die spiralförmige Rampe nach oben. Die Menschen um ihn herum protestierten, als er sie zur Seite stieß. Er keuchte. Seine Brust fühlte sich an, als wollte sie zerspringen, und mit einem Mal spürte er, wie die Milchsäure im unteren Teil seiner Beinmuskulatur ankam. Nach oben. Der Mann vor ihm drehte sich kein einziges Mal um, sondern lief einfach weiter, ohne nach seinem Verfolger zu schauen. Anscheinend unbeeindruckt. Aber Niels weigerte sich aufzugeben; nicht mehr lange, und sie würden voreinander stehen. Dann würden auch die anderen Kollegen eintreffen, sie konnten Niels’ Position über GPS bestimmen. Alle Handys der Polizei ließen sich auf den Quadratmeter genau orten. Und dann wäre endlich Schluss.
Geschrei und lautes Rufen ertönte, als Niels die Aussichtsplattform erreichte. Er hatte seine Pistole in der Hand. Die Besucher um ihn herum sahen ihn entsetzt an, einige warfen sich zu Boden.
»Polizei Kopenhagen!«, schrie Niels, so laut er konnte. »Alle runter! Raus aus dem Turm!«
Jetzt kam erst recht Panik auf. Touristen und Familien mit Kindern stießen sich gegenseitig weg, um als Erste nach unten zu gelangen. Niels hörte, wie jemand auf der Treppe stürzte. Weinen und Rufen. Als er endlich von der Tür wegkam, war Hadi nicht mehr zu sehen. Ein Moment der Unaufmerksamkeit, und er hatte den Mann aus den Augen verloren. War er an Niels vorbeigerannt? War es Hadi gelungen, sich unter die Menge zu mischen und gemeinsam mit den anderen aus dem Turm zu laufen? Niels verfluchte seine Unachtsamkeit. Auf der Plattform begann es sich allmählich zu lichten.
Nun war Niels allein. Er sah sich um, stand auf dem Gipfel der Welt, umringt von einem winterkalten Kopenhagen. Noch immer hielt er die Pistole in der Hand. Er schritt suchend die Plattform ab – hier konnte man sich nirgendwo verstecken. Ein Satz aus seiner Schulzeit fiel ihm plötzlich ein. Der Doktor mit dem Messer dirigiert Krimskrams in den Kopf von Christian IV . Eine beliebte Verballhornung der Inschrift ganz oben am Turm. Warum erinnerte er sich jetzt an so etwas? Der Doktor mit dem Messer. Der Mörder mit dem Messer.
Als Niels ihn sah, war es fast zu spät. Abdul Hadi stürzte sich auf ihn, aber dieses Mal ging Niels nicht zu Boden. Sein Solarplexus fing zwei Tritte ein, und Niels musste sich fast übergeben. Hadi packte ihn von hinten am Hals und drückte zu. Niels’ Augen füllten sich mit Tränen. Er bekam keine Luft mehr. Plötzlich ließ Abdul Hadi los. Niels rang nach Luft. Er wollte sich aufrichten, doch er wurde zu Boden
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