Die Auserwählten
Rosenberg hatte Niels beim Sprechen den Rücken zugewandt. »Das stand in den Unterlagen, die ich von der Polizei erhalten habe. Und das haben sie auch gesagt, als sie hier auftauchten. Ein potenzieller Attentäter, der mit verschiedenen Terroraktionen in Verbindung gebracht wurde und Kontakte zu bekannten Terroristen hatte. Ihm selbst konnte keine konkrete Tat nachgewiesen werden, aber …« Rosenberg suchte nach den richtigen Worten. Er drehte sich um und setzte sich wieder. »Kennen Sie Daniel Pearl?«
»Der Journalist, der umgebracht wurde?«
»Genau. Ein amerikanischer Journalist, der 2002 von der Al Qaida in Karachi in eine Falle gelockt wurde und …«
»Man hat ihn enthauptet.«
Rosenberg nickte. »Eine widerwärtige Sache, die um die Welt ging.«
»Hatte Khaled damit etwas zu tun?«
»Das nahm man an. Ihre Kollegen sagten, er habe Pearl kurz vor dessen Tod getroffen. Man ging deshalb davon aus, dass er daran beteiligt war, den Amerikaner in die Falle zu locken.«
»Und was hat Khaled in Dänemark gemacht?«
»Das dürfen Sie mich nicht fragen. Möglicherweise war er unter falschem Namen unterwegs. Denken Sie daran, dass Dänemark ja eine ganze Reihe gesuchter Terroristen beherbergt hat. Die Täter, die 1993 den Bombenanschlag auf das World Trade Center verübt haben, hatten Verbindungen nach Århus.«
Niels nickte. Der Pastor fuhr fort: »Der polizeiliche Nachrichtendienst hat mich heftigst unter Druck gesetzt. Es durfte um keinen Preis publik werden, dass sich ein mutmaßlicher internationaler Topterrorist auf dänischem Boden befand. Gleichzeitig wussten sie aber auch, dass sie nicht einfach hereinspazieren und ihn festnehmen konnten. Die anderen Flüchtlinge hätten ihn verteidigt, und dann wäre sicher alles aus dem Ruder gelaufen.«
»Dann hat man Sie unter Druck gesetzt, ihn auszuliefern?«
»Genau. Und das Schlimmste dabei waren die anderen Flüchtlinge.«
»Die anderen Flüchtlinge? Wieso das denn?«
Der Pastor atmete tief durch und nickte. »Ich hatte das Gefühl, dass ich dieses Mal wirklich eine Chance hatte, die Flüchtlinge zu retten. Viele Zeitungen, eine ganze Reihe wichtiger Politiker und Teile der Bevölkerung unterstützten mich. Die Zeit war auf meiner und aufseiten der Flüchtlinge, denn die Sympathie kippte in unsere Richtung. Aber Khaled Hadi war inmitten dieser ganzen Sympathie eine tickende Zeitbombe. Wie würde die Bevölkerung reagieren, wenn publik wurde, dass ich mutmaßliche Terroristen schützte? Dann wäre es vorbei gewesen mit der Sympathie. Mit fürchterlichen Folgen für die anderen Flüchtlinge.«
»Dann haben Sie deshalb nachgegeben?«
Der Pastor antwortete nicht und saß einen Augenblick still da. Dann stand er auf, trat ans Regal und zog eine Schublade heraus. Mit einem Briefumschlag in der Hand nahm er wieder Platz.
»Ich war verzweifelt, hatte Panik. Zuerst wollte ich nicht. Ein Verfolgter hatte bei mir Zuflucht gesucht, und ich erachtete es als meine Pflicht als Christ, ihm meine Tür zu öffnen.«
»Der erste Stein«, sagte Niels.
Rosenberg sah ihn an. »Ja. Der erste Stein. Das stellte alles infrage, was ich seit Jahren gepredigt hatte.«
»Aber Sie hatten Angst, dass die öffentliche Sympathie für die anderen Flüchtlinge verlorengehen könnte.«
»Langsam, ganz langsam begannen die Bilder sich in meinem Kopf festzusetzen. Mit reichlich Unterstützung des Polizeilichen Nachrichtendienstes PET natürlich. Ich begann, mir Dinge vorzustellen: eine Bombe in einem Bus am Bahnhof Nørreport oder in einer vollbesetzten Metro. Oder ein Inlandsflug. All die Toten. Das Blut im Rinnstein. Zu guter Letzt dachte ich, dass das Risiko wirklich zu groß war. Er hätte in den Untergrund gehen können, nachdem man ihm eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt hatte. Ich stellte mir vor, dass ich eines Tages die Zeitung aufschlagen und etwas über einen Terroranschlag im Herzen Kopenhagens lesen würde. Ich würde auch lesen, dass sich dieser Terrorist in meiner Kirche versteckt hatte. Dass ich es hätte verhindern können, es aber nicht getan hatte.«
»Sie haben ihn ausgeliefert?«
Der Pastor nickte. »Wie Judas habe ich ihn ins Büro gelockt – hier in diesen Raum –, in dem bereits drei Leute vom Geheimdienst warteten.«
Rosenberg zögerte. Sein Atem ging eine Spur schneller. Endlich fuhr er fort: »Ich werde nie vergessen, wie er mich angesehen hat. Enttäuschung, Verachtung, Trauer und Wut. Ich habe dir vertraut, sagte sein Blick. Ich habe dir vertraut
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