Die Auserwählten
alles in Ordnung.‹ Letzteres Reaktionsmuster fand man häufig bei Männern.
Niels sagte nichts. Sein Kiefer und seine Wange schmerzten. Und sein Knie. Ganz zu schweigen davon, dass sein Puls sich nicht beruhigen wollte.
Das Kirchenbüro war so etwas wie ein Sitzungsraum und der Gemeinschaftsraum eines Kindergartens in einem. In einer Ecke stand eine Kiste mit Rasseln und Legoklötzen, während sich das Regal hinter dem Pastor unter schwarzen Büchern in ledernen Einbänden bog.
»Warum ausgerechnet Sie?« Niels bemerkte, dass er laut dachte.
Rosenberg zuckte mit den Schultern.
»Wie findet er seine Opfer? Oder fand ?«
»Vielleicht ein Zufall?« Der Pastor leerte sein Glas und schenkte sich gleich nach.
»Das glaube ich nicht.«
»Noch einen?«
Niels hielt die Hand über sein Glas und musterte den Pastor. Er log. Niels wusste nur nicht, was er ihm verschwieg.
»Ich verstehe das nicht.« Niels klang nasal wegen der Schwellungen in seinem Gesicht. Aber er wollte ihn zum Reden bringen. »Ich kann es mir einfach nicht erklären, warum ein Verrückter um den Erdball reist und gute Menschen umbringt.«
»Jetzt hören Sie doch damit auf«, unterbrach Rosenberg ihn. »Ich bin sicher keiner von den Guten.«
Niels überhörte ihn. »Aber es ist doch wohl klar, dass wir es hier nicht mit einem Zufall zu tun haben, sondern mit dem exakten Gegenteil.«
Sein Blick begegnete dem des Pastors. »Sie sind ausgewählt worden, um heute zu sterben. Und zwar nur Sie. Genau wie die anderen. Ich muss nur noch herausfinden, warum.«
Niels stand auf und trat ans Fenster. Das Büro lag im ersten Stock. Eine erlösende weiße Decke aus Schnee hatte sich über die Straße gelegt: über die Dächer, die Autos und Bänke. Zwei Beamte waren abgestellt worden, um das Auto zu bewachen, in dem Abdul Hadi gefesselt und an einen Haken gekettet auf der Rückbank saß. Bis hierher und keinen Schritt weiter . Die Leute vom Geheimdienst hatten Niels und Rosenberg bereits gebrieft. Sie durften sich öffentlich nicht äußern. Terrorgesetzgebung – Laufende Ermittlungen, Verhinderung weiterer Angriffe und so weiter. Niels wusste gut, dass nie auch nur ein Wort über diese Geschehnisse berichtet werden würde. Nur in den geheimsten Archiven würde man etwas darüber lesen können, doch zu diesen Archiven hatte nicht einmal der Ministerpräsident Zugang. Niels kannte die neuen Terrorgesetze, sie hatten einen Keil zwischen Wissen und Informationen auf der einen Seite und der Bevölkerung auf der anderen getrieben. Das war die reinste Zensur.
Als Niels sich umdrehte, lag ein Schatten auf Rosenbergs Gesicht. Er hatte seine Schultern leicht hochgezogen. Kommt die Reaktion also doch noch, dachte Niels und wartete förmlich darauf, dass der Pastor zusammenbrach, wenn ihm bewusst wurde, dass er nur um Haaresbreite davon entfernt gewesen war, von einem Verrückten aufgeschlitzt zu werden.
»Haben Sie Familie, mit der Sie heute Abend zusammen sein können?«, fragte Niels. Der Pastor schwieg.
»Ich werde natürlich dafür sorgen, dass Sie mit einem Psychologen reden können, wenn Sie das wünschen.«
Rosenberg nickte nur. Ein quälend langer Augenblick verstrich. Niels sah ihm an, dass er gern reden wollte. Sich bekennen. Das war Teil seiner Natur. »Sie dürfen gern anrufen, wenn …«
»Sie haben den Verkehrten.«
Niels erstarrte. Jetzt kam es.
»Sie haben den verkehrten Mann.« Rosenbergs Stimme klang dumpf und hohl, als käme sie von einem fernen Ort.
»Wie meinen Sie das?«
Schweigen.
»Wie meinen Sie das? Wir haben den Verkehrten? Der Mann hat doch versucht, Sie umzubringen.«
»Das ist aber nicht der .«
»Sie kennen ihn?«
Rosenberg zögerte. Dann sah er zum Tisch und nickte. Niels setzte sich.
46.
46.
Niels-Bohr-Institut, Kopenhagen
Physische Schmerzen waren ein gutes Zeichen für einen Wissenschaftler. Ein Indiz dafür, dass man zu lange in der gleichen Stellung gesessen, zu wenig gegessen und nichts getrunken hatte – deutliche Anzeichen dafür, dass man sich einem Durchbruch näherte. Einige der männlichen Mitarbeiter bezeichneten diesen Zustand als »Entdeckungswehen«. Hannah ignorierte ihren Rücken und das Knurren in ihrem Magen, als sie die Internetadresse in das Suchfeld eintippte: http://en.wikipedia.org/wiki/File:Pangea_animation_03.gif
Fasziniert starrte sie auf die kleine Animation der Wanderung der Erdteile. Es sah aus, als segelten sie einfach so auseinander, Nord-und Südamerika und Asien, jeder in seine
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