Die Auserwählten
denken, beim Fußball geht es um die Frage von Leben und Tod. Ich mag diese Einstellung nicht. Ich kann Ihnen versichern, dass es noch sehr viel ernster ist.‹« Er sah sie an und lachte.
»Wenn du zusiehst, was gerade in Südafrika passiert, nur sieben Monate vor der Fußball-WM, muss man wohl zugeben, dass Bill Shankly Recht hatte. Ich meine, aufgrund eines kleinen, runden Lederballs ist das ganze Land bereit, sich zu verändern. Auf jeden Fall nach außen hin«, fügte er hinzu.
Kathrine sah aus dem Fenster.
Das Zentrum von Kapstadt, die moderne, westliche Metropole, ging allmählich und kaum merklich in das Großstadt-Afrika über, das man aus den Medien kannte: Slum, Trostlosigkeit, Abfall, Hitze und Staub. Es war unmöglich auszumachen, wo Khayelitsha begann. Vielleicht hatte man es auch eher mit einer mentalen als einer geografischen Grenze zu tun. Man passierte eine unsichtbare Linie, und von diesem Punkt an gab es keine Perspektive mehr, keine Hoffnung. Nur noch den Kampf ums nackte Überleben. Der tägliche Wettlauf um etwas zu essen und zu trinken und darum, nicht Opfer eines zufälligen Verbrechens zu werden. In Südafrika passierten jedes Jahr fünfzigtausend Morde und alle dreißig Sekunden wurde eine Frau vergewaltigt.
Khayelitsha – Südafrika
Marc hielt an und wartete ein paar Sekunden, bis der Wagen mit der Security wieder aufgeholt hatte. Die Straßen wurden schmaler, die Häuser kleiner: Bald sahen sie nur noch Hütten, Wellblechverschläge, improvisierte Lehmbauten, staubige Autowracks und Hunde, überall Hunde. Mit gebrochenen Schwänzen, hinkend, bellend, durstig.
In Khayelitsha gab es keine spielenden Kinder, das registrierte Kathrine sofort. Sie standen bloß auf der Straße, beobachteten sie und rauchten. Ein einziger Junge spielte Fußball. Er trug ein selbstgemachtes Barcelona-Trikot. ›Messi‹ stand auf seinem Rücken. Eine Frau schimpfte ihre Kinder aus, die das vollkommen gelassen über sich ergehen ließen. Was Kathrine aber am meisten auffiel, war der Müll, der überall herumlag. Cola-Flaschen, Konservendosen, Plastiktüten, Autoreifen, Verpackungen. Der Gestank nach Staub und Hitze, Urin und Hoffnungslosigkeit drang zu ihnen in den Wagen.
Marc folgte dem GPS und fuhr abwechselnd nach links und rechts. Schon nach kurzer Zeit hatte der Staub sich wie eine Haut auf die Windschutzscheibe gelegt, durch die alles da draußen irgendwie unwirklich aussah.
Kathrine war es bisher gelungen, die Armenquartiere zu meiden. Tat man das, war Südafrika ein fantastisches Land. In den ersten Monaten, in denen sie sich größtenteils nur im Büro, im Hotel oder in Restaurants und Cafés im Finanzdistrikt aufgehalten hatte, hatte sie beinahe vergessen, wo sie war. Es hätte ebenso gut New York oder London sein können. In einem sehr warmen Sommer.
Marc sprach über einen Kollegen im Büro, den er nicht leiden konnte. Kathrine hörte nur mit halbem Ohr zu, und ihre Unaufmerksamkeit flog auf, als Marc das Thema wechselte.
»Cathy?«
»Yes?«
»Tonight?«
Er stoppte den Wagen und wandte ihr das Gesicht zu.
»I know this very nice Indian Restaurant.«
Kathrine sah ihn an. Auf diese Einladung zum Essen hatte er schon seit Wochen hingearbeitet. Es war klar, dass sie irgendwann kommen musste, und obgleich Kathrine irgendwie mit gemischten Gefühlen darauf gewartet hatte, war sie jetzt überrascht. Er lächelte. Mit seinen weißen Zähnen. Und dieses Lächeln ließ erkennen, dass er an mehr als nur einen Restaurantbesuch dachte. Kathrine zweifelte nicht daran: Sagte sie Ja, würde sie mit ihm im Bett landen. Dann würde es das ganze Paket geben. Essen, Drinks, Sex. Sie hätte gern Ja gesagt. Ihr Körper hatte Lust, das spürte sie an der Wärme, die sich in ihrem Bauch ausbreitete.
»Why are we stopping?«
Sie hatte erwartet, dass er erst eine Antwort von ihr forderte. Der Gedanke, jetzt nicht ausweichen zu können und sich der Frage stellen zu müssen, war sogar irgendwie verlockend. Vielleicht war sie deshalb ein bisschen enttäuscht, dass er ihre ausbleibende Antwort einfach so akzeptierte, auf das GPS zeigte und antwortete:
»We are here.«
***
Das Haus sah eigentlich vollkommen normal aus. Es lag etwas abseits des Slums, mehrere Hundert Meter vom nächsten Haus entfernt. Ein Wall aus Müll bildete die Grenze zwischen dem Slum und der Natur.
Ihr nächster Gedanke war, dass Marc das GPS falsch abgelesen haben musste. Warum sollte Niels sie gerade zu diesem Haus leiten – einem
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