Die Ausgelieferten
aus dem Kreis der Demonstranten schnell beschafft worden. Die Audienz beim Kronprinzen und die Demonstration selbst wurden in dem Blatt als ergreifende und spontane Manifestationen gewürdigt. Das Wetter sei ausgezeichnet gewesen.
Und die Demonstranten?
Sie versammelten sich am Abend des 26. November im Humlegården beim Standbild Linnés. Sie trugen Fackeln, und neben ihnen brannte das, was sie »die Feuer der Freiheit« nannten. Vorn am Rednerpodium brannte ein größeres Feuer, daneben, in einem Halbkreis, hatte man kleinere Flammen entfacht; die Feuer und Fackeln loderten und sprühten, sie warfen ein flackerndes Licht auf Menschen und Bäume. In den Zweigen hingen Lautsprecher. Als der erste Redner zum Sprechen ansetzte, waren schon tausend Menschen versammelt. Immer mehr Menschen kamen dazu, schließlich mochten es dreitausend sein; sie standen still und froren. Sie lauschten den Rednern aufmerksam; unterdessen erloschen allmählich die Fackeln. Der CVJM-Sekretär Arvid Noreen hatte schon gesprochen, ebenso Fräulein Thyra Stjärna: sie hatte verlangt, dass nicht nur die Balten, sondern auch die Deutschen im Lande bleiben müssten. Die Mehrzahl der Anwesenden schien ihre Meinung zu teilen. Sie hatte lange gesprochen, sie glaubte an das, was sie gesagt hatte. Hinterher hatte sie sich unter die Menge begeben. In den Zeitungen stand am nächsten Tag, dass sie geweint habe. Vom Podium verlas jemand eine Resolution, in der die Auslieferung verurteilt wurde, und tausend Stimmen schrien ja, ja, ja. Einige wenige schrien nein.
Unter diesen wenigen befand sich ein Bauarbeiter von etwa vierzig Jahren. Nennen wir ihn Eriksson. Er stand am Rand der Menschenmenge. Er trug einen braunen Trenchcoat mit Gürtel, eine Baskenmütze, Handschuhe hatte er nicht an. Er war ungefähr einen Meter fünfundsiebzig groß. Er hatte eine Pfeife im Mund. Neben ihm stand eine Dame mittleren Alters; sie war eine von denen, die ja gerufen hatten. Diese beiden kannten sich nicht. Als Eriksson sein Nein hinausgeschrien hatte, wandte sie sich mit einem wütenden Ausdruck im Gesicht um, sagte etwas, was er nicht verstehen konnte und gab ihm einen Stoß, möglicherweise mit dem Arm oder dem Ellbogen. Eriksson sah sie an und sagte, ohne die Pfeife aus dem Mund zu nehmen: »Wenn Sie sich hier nicht wohlfühlen, meine Dame, brauchen Sie nur zu gehen!«
Er behielt beim Sprechen die Pfeife im Mund, und die Frau erwiderte sofort, etwa folgendes: »Wenn’s Ihnen hier nicht gefällt, können Sie ja nach Russland fahren!« Zugleich schlug sie ihm heftig über den Mund.
Sie schlug mit der rechten, zur Faust geballten Hand zu und traf Erikssons Mund. Er verlor die Pfeife, fiel nach hinten und setzte sich schwer auf den zertrampelten, schmutzigen Rasen. Sogleich waren die beiden von einem Kreis Neugieriger umgeben. Der Mann saß still auf der Erde und fasste sich erstaunt und unbeholfen an den Mund. Er blutete, spie etwas aus und entdeckte, dass es ein Zahn war. Er sah wortlos zur Frau hoch und streckte sich nach der Pfeife, die neben ihm lag. Dann stand er langsam und bedächtig auf.
Drei Wochen später wurde die Frau von einem Stockholmer Gericht wegen leichter Körperverletzung verurteilt, der Mann wegen Störung einer öffentlichen Kundgebung. Die Zeitungen brachten die beiden Urteile in Form kurzer Notizen. Das war im Dezember: die Balten lagen in Krankenhäusern, niemand wusste, ob sie ausgeliefert werden würden oder nicht. Die beiden Verurteilten erhielten geringe Geldstrafen.
Die Frau. Sie lebt heute in einer schwedischen Kleinstadt. Sie will sich auf gar keinen Fall zu den damaligen Ereignissen äußern oder auf andere Weise in diese Sache verwickelt werden. Am Telefon klingt ihre Stimme sehr klar und gebildet; sie spricht schnell und ohne zu zögern. Nein, sie habe diese Geschichte längst vergessen, sie sei nicht der Rede wert. Sie erinnere sich nur noch daran, dass es Krach gegeben habe. Der Mann sei ein Kommunist gewesen. Sie habe nichts mehr zu sagen, vielleicht sei sie damals ein bisschen zu weit gegangen, aber schließlich seien die Zeiten so unruhig gewesen. Damals sei beinahe jeder empört und erregt gewesen.
Das Gespräch endet mit beiderseitigen Äußerungen des Bedauerns.
Als Eriksson abends nach Hause kam, hatte es aufgehört zu bluten, aber der Zahn war für immer weg. Er erinnert sich noch sehr gut an diesen Abend. Er ist heute zweiundsechzig Jahre alt, vorzeitig pensioniert, wohnt in Bromma in einer Einzimmerwohnung. Man
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