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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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weinte oft und fragte ihn flüsternd nach Gott und der Verdammnis und der Ewigkeit. Diese Fragen konnte und wollte er nicht beantworten, da er nie geglaubt hatte. Außerdem fand er die Fragen peinlich und erniedrigend für sie, da auch sie immer ungläubig gewesen war. Er saß in einem Lehnstuhl neben ihrem Bett, und er weiß heute noch, dass er immer schrecklich schläfrig und müde war und dass sie ununterbrochen auf ihn einredete. Sie hatte sich sehr verändert, seitdem sie erfahren hatte, dass sie sterben würde. Sie war aggressiver und zugleich sentimentaler geworden. Sie verlor immer mehr von der Würde, die sie als Gesunde besessen und die er so sehr bewundert hatte. Sie sprach von ihrer Angst vor dem Sterben und von dem schwarzen Nichts, in das sie bald gestürzt werden würde; mit manischer Beharrlichkeit kehrte sie immer wieder zu diesen Dingen zurück; sie würde sich bald von einem Felsen in die große Dunkelheit stürzen.
    Ihre Würde und ihr Selbstgefühl schienen langsam zu zerrinnen, sie wurde weinerlich, wurde ein anderer Mensch, ein Mensch, den er nicht wiedererkannte oder nicht wiedererkennen wollte. In der letzten Woche hatte sie entsetzliche Schmerzen, der Bauch schwoll wegen der Metastasen an, ihr Gesicht wurde gelb, und das Morphium hatte bald keine Wirkung mehr. Schließlich konnte sie nicht mehr sprechen, und danach wurde es unerträglich. »Es ist einfach unfassbar, einen Menschen so sterben zu sehen.«
    Wie erlebte er das alles mit? Sie tat ihm leid. Vor allem aber erinnert er sich an seine eigene Müdigkeit und Schläfrigkeit, die beschreibt er detailliert. Er saß da, und sie sprach oder schrie, und er wünschte, es möge bald zu Ende sein, damit er wieder schlafen konnte. Die letzten Tage verschwimmen in seiner Erinnerung. Er befand sich in einem Zustand ständigen Halbschlafs, völlig erschöpft, sie war halb bewusstlos, wimmerte und weinte. »Es ist schwer zu beschreiben, wie hilflos ich war; ich wollte helfen, konnte es aber nicht.«
    Kinder hatten sie nicht.
    »Es dauerte mehrere Jahre, ehe ich mich davon lösen konnte. Ich weiß noch, wie ich an jenem Abend im Humlegården an sie dachte.« Wie dachte? »An ihre Verwandlung.« Inwiefern? Hatte ihre Krankheit für ihn etwas mit der Auslieferung der Balten zu tun? »Nein, ich dachte nur an ihre frühere Selbständigkeit und daran, wie sie durch ihre entsetzlichen Schmerzen ihre Würde verlor. Aber so ist es eben, man wird so.« Dachte er noch an andere Dinge? »Nein, es kam eben über mich, als ich dort stand.« Warum kam es über ihn?
    1948 machte er eine kleine Erbschaft und kaufte auf Kungsholmen einen Milchladen. Eine gute Entscheidung, wie er meint. 1952 verkaufte er das Geschäft wieder, weil er in dieser Branche keine Zukunft mehr sah. Danach wurde er Schwerarbeiter. Im September 1960 arbeitete er in den südlichen Vorstädten, wurde von einem umkippenden Zementmischer erfasst. Der rechte Arm wurde zerquetscht und musste amputiert werden. Danach konnte Eriksson nicht mehr arbeiten und bekam eine Invalidenrente.
    Behörden und Beamten gegenüber ist Eriksson skeptisch und aggressiv eingestellt. »Sobald die irgendwas zu sagen kriegen, sind sie wie verwandelt. Dann verlieren sie verdammt nochmal jede Selbständigkeit und kriechen entweder ihren Vorgesetzten in den Arsch oder treten nach unten. Sie verlieren mit einem Mal ihre Würde. Guck dir doch nur mal die Scheißbürokraten an, die jetzt in der Regierung sitzen.« Auf Befragen sagt er, dass es »mit den Bürgerlichen sicher noch beschissener geworden wäre«. Er spricht lange über die Macht. Er selbst hat nie Macht besessen, ist aber lange in der Gewerkschaft tätig gewesen. Er meint, zu aufmüpfig gewesen zu sein, um auf höhere Posten klettern zu können. Während der Zeit als Bauarbeiter hat er nach eigener Aussage gut verdient, im Milchladen dagegen war es um seine Finanzen miserabel bestellt. Die Balten bezeichnet er als entsprungene Nazis, jedenfalls die Mehrheit. »Die haben schließlich in der deutschen Wehrmacht gedient, das können sie nicht einfach abwaschen.«
    Geschlechtsleben. Nach dem Tod seiner Ehefrau dauerte es vier Jahre, bis er mit einer anderen Frau intime Beziehungen aufnahm. Im Herbst 1948 wohnte eine dänische Serviererin bei ihm, die ein halbes Jahr blieb. Danach hat er »dann und wann« mit Prostituierten verkehrt. Er kennt einige, die er gelegentlich anzurufen pflegt. Man muss aber die finden, die lieb sind, meinte er. Mit »lieb« meint er »nett«

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