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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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oder »anständig«, ist aber nicht bereit, sich näher zu präzisieren.
    Kinder? Kinder hätte er natürlich gern gehabt, aber es ist eben so, wie es ist.
    In den letzten sechs Jahren, seit dem Unfall, hat er sich daran gewöhnt, sein Sexualleben als abgeschlossen zu betrachten.
    Wirtschaftliche Verhältnisse. Er klagt nicht. Seine Wohnung kostet 175 Kronen im Monat, was er für preiswert hält. Seine Verhältnisse sind geordnet, er kommt ohne größere Schwierigkeiten zurecht.
    Religion. Er hat nie geglaubt und wird auch nie glauben. »Man sieht aber so viele, die die Hosen voll haben, wenn’s ans Sterben geht.« Er scheint dies für eine Art Verrat zu halten.
    Warum rief er nein?
    Als er im Halbdunkel des Humlegården in der Menschenmenge stand, als da vorn die Fackeln brannten, wähnte er sich plötzlich in einer feindlich gesinnten Gesellschaft, die von Menschen mit Macht und Geld gelenkt wurde, er glaubte sich von Menschen umgeben, die unkritisch Zeitung lasen und mechanisch mit Zorn, Wut, Freude, Entzücken, Trauer, Verachtung, Gleichgültigkeit auf all das reagierten, was die da oben mittels Knopfdrucks ausgelöst hatten. »Die da rumstanden, hatten überhaupt keine Ahnung, worum’s wirklich ging, die schluckten alles, was die bürgerliche Presse schrieb.« Die Verlockung und die Freude, in den allgemeinen Chor der Ja-Schreier einzustimmen, hat er sehr deutlich gespürt, die Verführungskraft der Erregung, er zog es aber vor, der Versuchung zu widerstehen, nicht aufgrund besserer Einsicht oder besserer Kenntnis der Tatsachen, sondern aus Prinzip. Er hatte die Menschen in seiner Nähe beobachtet, ihre Kleidung gesehen, ihre Hände, und einen Abstand gefühlt, der ihn wütend und für die Erregtheit des Mitgefühls und Mitleids unempfänglich machte. »Das ganze verdammte Östermalm war versammelt, und da stand ich nun.«
    In der Sekunde, als sein »Nein« heraus war, hatte er eine rasche und heftige Freude gefühlt, als hätte er sich endlich losgerissen, befreit, als wäre es ihm gelungen, einen letzten Rest seiner persönlichen Würde zu wahren. Einen Augenblick lang war er Gefangener in diesem Kessel aus Menschen, Worten, Feuern und Aufrufen gewesen, es war ihm aber gelungen, sich loszureißen.
    Er gibt immer wieder zu, dass er sich nie in die Frage hineingedacht hatte, dass er nicht viel wusste; mit gleicher Beharrlichkeit wiederholt er seine Freude, dieses eine Mal nein gerufen zu haben. Jemand hatte eine Resolution verlesen, gefragt, ob sie angenommen werden sollte, die Feuer hatten geflackert, und alle hatten ja, ja, ja gerufen; er aber hatte sein »Nein« laut und hart hinausgeschrien. Und dann hatte eine neben ihm stehende Frau ihn geschubst und einen Kommunisten genannt; er hatte sogleich etwas erwidert, dann den Schlag kommen sehen, dem ein kurzer und plötzlicher Schmerz gefolgt war, als die geballte Faust seinen Mund traf, die Pfeife zu Boden fallen ließ und einen Zahn herausschlug. Da vorn hatten die Feuer gebrannt, die sie die »Feuer der Freiheit« genannt hatten, er hatte sie als diffuse Lichtpunkte wahrgenommen, er hatte Menschen gesehen, die sich umdrehten, als der Streit begann, er hatte den Schlag kommen sehen, ihm aber nicht ausweichen können. Er hatte die Pfeife verloren, war schräg nach hinten gefallen und hatte sich schwer auf den morastigen, zertrampelten Rasen gesetzt. Er hatte auf der Erde gesessen, die Hand an den Mund geführt, den Zahn ausgespuckt und die Frau angesehen.
    Sie hatte einen Hut aufgehabt, einen schwarzen Mantel getragen und ihn mit einem aus Erstaunen, Verachtung und Angst gemischten Ausdruck angesehen. Er hatte seine Pfeife aufgehoben und war schwerfällig wieder aufgestanden.
    Lange danach wurde die Pressedebatte Gegenstand einer Untersuchung: Umfang, Intensität, Wertungen, Spaltenmeter. Das Ergebnis war in sachlicher Hinsicht recht aufschlussreich. Afton-Tidningen hatte 29 Leitartikel in dieser Sache veröffentlicht, Svenska Dagbladet 22, Expressen 15, Morgon-Tidningen 41, Svenska Morgonbladet 16. Aftonbladet hatte im Lauf des Winters 21 Schlagzeilen über die Balten gebracht, Svenska Dagbladet 16, Ny Dag (kommunistisch) 3, Stockholms-Tidningen 12. Es wurde kein Versuch gemacht, den gesamten Raum zu errechnen, den die Zeitungen dem Fall gewidmet hatten. Das wäre sicherlich auch ein schwieriges Unterfangen gewesen, da in dieser letzten Novemberwoche des Jahres 1945 alle schwedischen Blätter fast ausschließlich damit beschäftigt gewesen zu sein scheinen,

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