Die Ausgelieferten
wurde. Er hatte sich auch daran gewöhnt, die Russen als die Menschen anzusehen, die die Welt vor dem Nazismus gerettet hatten, und es regte ihn auf, wenn die Zeitungen sie als Barbaren hinstellten. Er bewunderte Undén; der Entschluss, in der Wittlock’schen Schule zu sprechen, fiel ihm also nicht schwer. Er war der einzige Redner. Er erklärte, dass alle Balten Nazis seien und dass es keinen Grund gebe, sie nicht auszuliefern. Da er der einzige Redner des Abends und überdies Oberprimaner war, verlief die Abstimmung in der Aula wie von ihm gewünscht: die jüngeren Schüler hörten auf die älteren, und von dieser Schule wurde somit keine Protestresolution verabschiedet.
Später dachte er oft an das, was er gesagt hatte, und er schämte sich manchmal, weil er glaubte, vereinfachend und allzu demagogisch gesprochen zu haben. Andererseits dachte er aber auch daran, dass er von sehr persönlich gefärbten Voraussetzungen hatte ausgehen müssen; andere würden ihrerseits ebenso vorgehen. In verschiedenen Schulen Stockholms wurden Protestresolutionen angenommen. In diesen Schulen war die Information offenbar ebenso einseitig wie in der Wittlock’schen; es glich sich also alles aus. Später wurde eine Untersuchung angeordnet, die natürlich zu keinem Ergebnis führte. »Dass von Rektoren oder Lehrern Druck ausgeübt wurde, ist nicht nachzuweisen.« In manchen Schulen hatten Rektoren oder Lehrer die Protestversammlungen damit eingeleitet, dass sie Zeitungsberichte aus den Lagern verlasen, in anderen hatten Lehrer oder Rektoren den Schülern Orientierungshilfen gegeben, bevor es zur Abstimmung kam. Diese Tatsache allein reicht aber nicht aus, um eine bewusste Steuerung der Abstimmungen zu vermuten. Es ist noch zu erwähnen, dass die vorgeschlagenen Resolutionen im allgemeinen einstimmig angenommen wurden. In einem Gymnasium unterlief den Verantwortlichen ein Fehler: die Schüler lehnten die Protestresolution ab, weil man sie vor der Abstimmung nicht über die Fakten orientiert hatte. Nachdem dieses Versäumnis nachgeholt worden war, wurde die Abstimmung wiederholt. Diesmal nahmen sie die Resolution einstimmig an.
In vielen Fällen wurde die Morgenandacht für diese Abstimmungen »zweckentfremdet«. Ein paar Stockholmer Schulen protestierten damit auf ihre Art gegen die Auslieferung der Balten.
Es gab viele Demonstrationen, die aber ganz verschiedenen Charakters waren. Einer der Demonstrationszüge begann am 25. November gegen 14 Uhr auf dem Marktplatz von Östermalm in Stockholm. Die Teilnehmer versammelten sich auf dem Marktplatz; einige trugen Plakate, auf denen sie gegen die Auslieferung protestierten. Zunächst hatten sich etwa hundert Menschen oder gar noch weniger eingefunden, aber dann machte man sich auf den Weg, und allmählich kamen immer mehr Menschen hinzu. Der Zug bewegte sich auf das Schloss zu. Das Wetter war sehr gut, die Sonne schien, und es blies ein leichter Wind. Auf dem Burghof neben dem Schloss blieb die Menge stehen. Irgend jemand stimmte die schwedische Nationalhymne an, »Du gamla du fria« (Du altes, freies Land), und später sang man auch das »Königslied«. Sie nahmen Hüte und Mützen ab, und danach brachte jemand ein Hoch auf das Vaterland aus. Danach gab es eine Pause; niemand wusste so recht, was nun folgen sollte (inzwischen war die Menge auf etwa tausend Personen angewachsen). Schließlich stellte sich ein junger Mann neben den Obelisk Gustavs III. und sprach zur Menge. Seine Rede wurde später als einfach und anspruchslos bezeichnet. Anschließend wurde »mit überwältigender Begeisterung« eine Resolution angenommen. Sie lautete: »Schwedische Männer und Frauen, die vor dem Schloss Eurer Majestät zusammengekommen sind, appellieren an Sie und an Ihre Regierung, alles in Ihrer Macht Stehende zu tun, um diese Handlung zu verhindern, die Schwedens unwürdig ist.«
Svenska Dagbladet konnte am nächsten Tag melden, dass sich im Verlauf der Demonstration eine interessante und aufschlussreiche Episode zugetragen habe. Die Menge habe eine Delegation ernannt, die dem Kronprinzen ihre Aufwartung machen sollte; der König habe sich zu dieser Zeit in Drottningholm befunden.
In die Abordnung wurde neben anderen auch der Hofintendant Gösta Stenman gewählt. Da er ursprünglich nur habe spazierengehen wollen, habe er unter seinem leichten Sommermantel keine Jacke angehabt. Deshalb habe er gemeint, dem Kronprinzen in diesem Aufzug nicht unter die Augen treten zu können. Eine Jacke sei jedoch
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