Die Ausgelieferten
fährt über ein Feld, dann geht man auf einem schmalen Gehweg bergauf; auf einem steil aufragenden Hügel stehen gelbe Mietshäuser. Hier wohnt er. Er spricht gern, möchte aber anonym bleiben.
Der Zahn wurde durch einen Stiftzahn ersetzt, das Unbehagen war nur vorübergehend, die Pfeife war nicht beschädigt worden, die Geldstrafe nahm er gleichmütig hin, obwohl er zunächst fuchsteufelswild gewesen war. Es dauerte aber dennoch lange, ehe er das Ereignis vergaß. In den Mittagspausen sprach er oft mit seinen Kollegen über die Auslieferung, er verfolgte die Balten-Affäre mit gespannter Aufmerksamkeit, diskutierte über die Demonstration und den Zusammenstoß mit der Frau. Als Held konnte Eriksson sich leider nicht fühlen, auch nicht als Märtyrer, schließlich hatte eine Frau zugeschlagen, was ihn fast lächerlich erscheinen ließ: er war von einer Frau niedergeschlagen worden, und daher spielte es keine Rolle, ob sie verrückt gewesen war oder reaktionär oder arbeiterfeindlich oder deutschfreundlich. Im Januar, als alles vorüber war und die Balten sich nicht mehr im Land befanden, seufzte er erleichtert auf. Die Ereignisse verschwanden aus seinem Gedächtnis, waren viele Jahre lang aus seinem Leben gestrichen. Dann kam alles wieder.
Seine politische Einstellung. Er wurde in einem Kleinbauern-Heim in Uppland geboren; als er nach Stockholm kam, schloss er sich sofort einer Gewerkschaft an. Er bezeichnet sich selbst als einen Sozialdemokraten. »Während des Krieges war es natürlich anders. Damals haben wir die Russen als die letzte Barriere gegen die Deutschen empfunden.« Er kommt plötzlich auf die schwedischen Zeitungen und ihr Bild vom Krieg zu sprechen. »Hier versucht man uns einzureden, dass die USA den Krieg gewonnen haben. Einen Scheißdreck haben sie getan. Guck dir mal ’n paar Karten an, und zwar Jahr für Jahr, dann kannst du sehen, wer die Dreckarbeit gemacht hat.«
Wenn er aufgeregt wird, raucht er hektisch und drückt die Stummel nach kurzer Zeit aus, um sie kurz darauf wieder aus dem Aschenbecher zu nehmen und wieder anzuzünden. Er hat Karten und Zeitungsausschnitte aus der Kriegszeit aufbewahrt, liest offenbar eine Menge.
»Sieh mal her«, sagt er. »1941 waren die Engländer vom Festland vertrieben, die Deutschen herrschten allein in Europa. Damals gab es nur eine Front, und zwar nach Osten. Vier Jahre hielten die Russen gegen die Deutschen stand, sie bremsten ihren Vormarsch, hielten ihn auf, schlugen sie und trieben sie schließlich zurück. Wo, zum Teufel, hielten sich die Amerikaner damals versteckt? In Italien waren sie, ja, aber erst nach 1943. Na, wennschon, dieser schmale Streifen hat nie eine Rolle gespielt. Und Nordafrika? Ja, da gab’s diese verdammte Theater-Schlacht bei El Alamein, ein paar tausend Tote, kleine Verbände, kleine Verluste, große Schlagzeilen. Weißt du eigentlich, wieviel die Russen bei Stalingrad erledigt haben? Über eine Million Deutsche! Das war’s, mein Lieber, das hat den Krieg entschieden. Und dann kamen die Amerikaner im Sommer 1944, um Europa vor dem Nazismus zu retten, aber zu diesem Zeitpunkt war Europa schon gerettet. In unserer bürgerlichen Presse stehen aber die Amerikaner als Retter der Welt da.«
Hat er irgendwann für die Kommunisten gestimmt? Ein paarmal, während des Krieges und auch kurz danach. Und später? Sie haben ja soviel Mist gemacht, erst in Ungarn, und dann haben sie in Berlin auf Arbeiter eingeschlagen, in den vierziger Jahren war das alles ganz anders. Und heute? Heute ist es sicher besser. Besser? Ja, es hat sich alles so ziemlich beruhigt, ist demokratisch geworden und so. Für welche Partei stimmt er heute? Von Fall zu Fall verschieden. Politische Lieblingsgestalt? Lumumba. Lumumba? Ja, genau der. Warum denn das? Jaa … der, der plötzlich starb.
Nach einem Jahr wurde der Stiftzahn blau, 1949 wurde in den Oberkiefer eine Vollprothese eingesetzt, da auch die übrigen Zähne mit den Jahren immer schlechter geworden waren. Das war das Beste, was man hätte tun können, meint er. Von 1936 bis 1944 war er verheiratet. Im Frühjahr 1944 starb seine Frau. Krebs. Sie erhielt die Nachricht im Januar und lag bis zum 25. Mai im Krankenhaus. An diesem Tag starb sie. Während der letzten drei Wochen hatte er an ihrer Seite gewacht. Er erzählt lange von dieser Zeit, an die er sich sehr gut erinnert. Nach der Operation lag sie von Flaschen und Schläuchen mit Blut und Nährlösungen umgeben im Bett. Sie hatte Angst vor dem Tod,
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