Die Ausgelieferten
recht kurz; sie dauerte nur etwa zehn Minuten und war merkwürdig doppelbödig. Er stellte fest, dass es in der Studentenschaft eine starke Opinion gegen die Auslieferung zu geben scheine, und gab seiner und der Studenten Hoffnung Ausdruck, dass »wir nicht in eine Praxis zurückverfallen, nach der von neuem an schwedischen Rechtstraditionen herummanipuliert wird, um einem militärisch mächtigen Staat gefällig zu sein, wie das schon einmal im Fall einer anderen, jetzt besiegten Großmacht geschehen ist«.
Mit einem Seitenblick auf ein Ärztetreffen in Uppsala, bei dem jüdischen Ärzten die Einreise nach Schweden verweigert worden war, fuhr Forssman fort:
»Aus einem sattsam bekannten Anlass gab die Mehrheit der Uppsala-Studenten bei einem Treffen im Jahre 1939 ihrer Auffassung zu Flüchtlingsproblemen und Fragen des Asylrechts Ausdruck – vielleicht waren einige von Ihnen damals anwesend. Der humanitäre Standpunkt wurde damals nicht so einhellig vertreten wie heute. Als einige Berufsgruppen während des vergangenen Sommers ihre Konkurrenzangst wegen der Arbeitsplätze laut werden ließen (was an die Adresse der baltischen Flüchtlinge ging), ist eine der ersten Äußerungen aus den Kreisen von Uppsala-Studenten gekommen, was großes Aufsehen erregte – daran sollten wir uns heute ruhig einmal erinnern. Die schwedische Flüchtlingspolitik hat auch schon vor dem Krieg ihre Schattenseiten gehabt, aber die Studenten verhielten sich damals wie die meisten anderen Bevölkerungsgruppen stumm und gleichgültig. Wir müssen zugeben, dass die von Schweden vor dem Krieg und während des Krieges betriebene restriktive Flüchtlingspolitik für Tausende von Menschen einen qualvollen Tod bedeutet hat; alle diese Menschen hätten gerettet werden können, wenn die Humanität damals ebenso hoch im Kurs gestanden hätte wie heute.«
Forssman schloss mit der Feststellung, dass die Haltung in einer aktuellen Flüchtlingsfrage heute eine andere zu sein scheine, und er sagte, dass er bei den Behörden für die baltischen Soldaten plädieren werde.
Seine Rede wurde in den meisten Zeitungen als »flammender Protest« gegen die Auslieferung bezeichnet; in den meisten Blättern fehlte jedoch jeder Hinweis auf Anspielungen Forssmans auf die frühere Praxis der Behörden.
Vor der Universitätstreppe habe man, so die Zeitungen, ein »Meer ernst dreinblickender Menschen« gesehen.
Am Montag, 26. November, veranstalteten die Studenten Stockholms im Winterpalast ein Treffen, um gegen die Auslieferung zu protestieren. Die Tanzfläche war halbvoll, die Empore dagegen überfüllt. Insgesamt müssen über tausend Personen anwesend gewesen sein. Nach der Veranstaltung ging eine Sammelbüchse herum; die Kollekte war für die Saalmiete bestimmt. Unter den vielen Rednern war auch der Universitätsassistent Sven Ljungblom, der von den Russen erzählte.
Die Russen hätten die Angewohnheit, sagte er, ihre Kriegsgefangenen bei lebendigem Leibe einzugraben, so dass nur noch der Kopf herausschaue. Dann würden sie die Köpfe der Gefangenen mit ihren Stiefeln zertreten. Nach diesem Bericht verließ Ljungblom das Rednerpodium und setzte sich. Er erhielt starken Applaus.
Als Per Gedin 1938 nach Schweden kam, war er zehn Jahre alt. Einige seiner Verwandten saßen in Konzentrationslagern, weil sie Juden waren. Er kam nach Schweden, wurde eingeschult; im Herbst 1945 war er siebzehn und besuchte das Wittlock’sche Gymnasium, eine Schule für Jungen und Mädchen. Am 24. November wurden in den Schulen Stockholms mehrere Zusammenkünfte veranstaltet, bei denen gegen die Auslieferung protestiert werden sollte. Gedin war Schulsprecher, er wollte bei der Veranstaltung seines Gymnasiums sprechen. Er hatte sich während der Kriegsjahre daran gewöhnt, dass das Mitgefühl der Schweden nur schwer wachzurütteln war, besonders, wenn es um Juden ging, und durch die jüdische Gemeinde Stockholms hatte er schon zuviel gesehen und gehört, um noch irgendwelche Illusionen zu haben: man hatte zuviele Menschen ausgewiesen oder ihnen die Einreise nach Schweden verweigert. Jetzt sah er, wie in Schweden die allgemeine Humanität mit ungeahnter Kraft plötzlich aufblühte; diesmal ging es aber um Menschen, die in der deutschen Wehrmacht gedient hatten. Per Gedin glaubte, ein Verhaltensmuster erkennen zu können, er empörte sich über den Volkszorn, der sich bisher so schön verborgen gehalten hatte und jetzt zugunsten der deutschen und baltischen Soldaten plötzlich sichtbar
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