Die Ausgelieferten
verzichten, schlimmer war es dagegen, den angebotenen Punsch abzulehnen. Die Qual, aufs Essen zu verzichten, ist nur zu einem Teil körperlicher Natur; es war viel schwerer für ihn, wenn seine Frau und sein Kind Makkaroni und Fleischbällchen oder Pfannkuchen mit Eis oder Butterbrote mit Bier aßen und seine Rolle sich darauf beschränkte, die Gerichte zuzubereiten oder aufzuwärmen oder aber das schmutzige Geschirr abzuwaschen. Dieser Schmerz war aber nicht physisch, sonder psychisch; dieser Schmerz glich den Versuchen, das Rauchen aufzugeben. Er vermisste etwas, was in nächster Nähe, was erreichbar und zugleich durch eine Glaswand von ihm getrennt war. Es war eine kalte und regnerische Frühlingswoche, er saß an seiner Schreibmaschine, machte Spaziergänge und las Bücher. Jeden Tag von neuem verglich er seinen Zustand mit dem der Balten, wie er von den Zeitungen wiedergegeben worden war.
Er hatte sein Experiment mit dem Gefühl begonnen, dass es völlig sinnlos sei, dass es nur aus formellen oder grundsätzlichen Erwägungen heraus unternommen werden sollte: damit er noch deutlicher als bisher erkennen sollte, wie sinnlos es ist, ein Gefühl von einer einzigartigen Situation auf eine andere einzigartige Situation zu übertragen. Als er noch ein Kind war und gelesen hatte, wie norwegische Widerständler von den Deutschen gefoltert wurden, hatte er sich manchmal mit Nadeln in die Finger gestochen, nicht um zu erfahren, welchen Schmerz das verursachte, sondern weil er Schmerzen mit den Norwegern hatte teilen wollen. Hinter diesem neuen Experiment verbarg sich eine Absicht, die ebenso verworren metaphysisch und ebenso unmoralisch war wie bei den Experimenten seiner Kindheit; er wehrte sich aber mit Erfolg gegen sich selbst, und es gelang ihm, das Experiment ohne Missgeschick zu Ende zu führen. In seiner absurden Sinnlosigkeit hatte das Experiment aber dennoch einen Sinn. Alle diese ständigen Beobachtungen, diese ewigen Messungen, Pulskontrollen, Gewichtskontrollen und Spaziergänge nach der Stoppuhr schufen einen Zustand exaltierter Egozentrik, sie schienen einen Kreis um ihn zu schlagen, der ihn vor der Welt abschirmte. Da draußen glitt das Leben an ihm vorbei; Hanoi wurde bombardiert, man demonstrierte, Swetlana kam nach New York und gab ihren charmanten Unsinn zum besten, ein Schiff ging unter, irgendwelche Schweden wurden Weltmeister im Tischtennis-Doppel. Um sich selbst aber errichtete der Untersucher eine immer höher werdende Mauer aus Selbstbeobachtung, Egozentrik und Selbstbewusstsein. Tag für Tag wurde es immer offenkundiger: er spürte eine fast hysterische Ichbezogenheit, die schließlich alles andere verdrängte.
War das alles? Das Ergebnis des Experiments?
Am Dienstag fuhr er nach Stockholm. Der Tag war schön, er hatte viel zu tun, die Stunden vergingen: es war schön, den Problemen einmal für kurze Zeit zu entrinnen. Am Abend war er müde, lag aber keineswegs im Sterben, und das Aufstehen bereitete ihm keine Schwierigkeiten. Der Mittwoch brachte keine Änderung; es war jetzt sehr leicht geworden zu fasten, weil jedes Hungergefühl verschwunden war und weil er den Genuss des Essens zu vergessen begann. Er hatte keine Schmerzen in den Beinen, die Reaktion der Pupillen schien normal zu sein, von Hungerödemen war nichts zu bemerken. Der Puls im Ruhezustand, der zu Beginn des Experiments 82 Schläge pro Minute betragen hatte, war langsam gesunken und bewegte sich jetzt bei 60 Schlägen pro Minute; er war gleichmäßig und sehr deutlich zu spüren.
Am Mittwoch hatte man sie ins Krankenhaus gebracht. Am Donnerstag, dem 29. November, war das Balten-Lager geräumt gewesen.
Am Donnerstag um zwölf Uhr mittags brach er das Experiment ab.
Am Donnerstagmorgen ging er zum letzten Mal ins Institut für Leibesübungen der Universität Uppsala, badete, saß in der Sauna, jedoch nur einige Minuten. Gewicht: 72,9 Kilogramm. Er hatte genau 6,3 Kilogramm Gewicht verloren.
Der Ergometer-Test ergab folgendes Resultat: Der Puls im Ruhezustand hatte am Morgen 60 Schläge pro Minute betragen. Belastung 300 kpm pro Minute – also recht wenig. Gewicht: 72,9 Kilogramm. Pulsfrequenz nach der ersten Minute 124, nach der zweiten 126, nach der dritten 126, nach der vierten 126, nach der fünften 126, nach der sechsten 118, nach der siebenten 120 und nach acht Minuten auf dem Test-Fahrrad 118 Schläge in der Minute. Er nahm pro Minute 2,2 Liter Sauerstoff auf. Der Altersfaktor war 0,94, errechnete maximale
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