Die Ausgelieferten
besuchte er das Stadtgymnasium, eine der besten Schulen der Stadt. Die Zahl der Schüler aus Arbeiterfamilien war äußerst gering; die englische Gesandtschaft gehörte zu den großzügigsten Mäzenen der Anstalt. Sie versorgte die Schule kontinuierlich mit Stipendien und Stiftungen. Im Januar 1941, nachdem die Russen die Macht in Lettland übernommen hatten, taucht S.B. zum erstenmal auf. Während einer Unterrichtsstunde hat er einen vielbejubelten Auftritt: vor der versammelten Klasse verliest er die sowjetische Nationalhymne mit einem veränderten, »für die Sowjetunion höchst beleidigenden Text«. Irgendjemand denunzierte ihn, worauf er sofort relegiert wurde.
In diesem Sommer kamen die Deutschen, und im Herbst 1941 konnte er ans Stadtgymnasium von Riga zurückkehren.
Im selben Herbst organisierte einer der Lehrer der Schule, Magister Julijs Bracs, »ein sehr national denkender Lehrer«, eine Jugendgruppe, die unter seiner Leitung die vom NKWD im Hauptquartier des NKWD in Riga zurückgelassenen Papiere sichten, registrieren, sortieren und analysieren sollte. Diese Jugendgruppe arbeitete zwei- bis dreimal in der Woche im Haus des NKWD, sortierte die Papiere und versuchte, interessantes Material zu finden. Jeden Abend wurde der Arbeitstag mit dem lettischen Lied beendet: »Ein heilig’ Erbe ist dieses Land für unser Volk, und heilig sei, wer für unser Land stirbt.«
Die jungen Leute sangen stehend, in einem Kreis aufgestellt, nachdem die Arbeit des Tages im Haus des NKWD beendet war.
Wer war Julijs Bracs?
In einem lettischen Dokumentarbericht über lettische Kriegsverbrecher im Exil, der in Lettland herausgegeben worden ist, findet man den Namen eines gewissen Julijs Bracs, eines Akademikers aus Riga, »cand. hist.«, der in Westdeutschland leben soll. Er wird in diesem Buch als Gestapo-Agent bezeichnet. Im November 1943 soll er einen besonderen Wachtrupp organisiert haben, dem die Aufgabe zufiel, die Namen jener festzuhalten, die am 18. November am Fuß des Freiheitsdenkmals in Riga Blumen niederlegten. Er sei Chef der Informations-Abteilung des Kunst- und Sozialministeriums der Kollaborations-Regierung gewesen. Soweit die sowjetlettischen Angaben.
Wie dachte der lettische Legionär S.B. über seinen Lehrer Julijs Bracs?
In einem vom 5. Januar 1946 datierten Brief aus dem Lazarett von Örebro, der an einen Freund adressiert ist, erwähnt S.B. mit einigen Worten seine Ansicht über Bracs – vermutlich deshalb, weil der Freund sich in seinem Brief mit wenig schmeichelhaften Ausdrücken über diesen geäußert hat. »Deshalb habe ich auch«, schreibt S.B., »eine eigene Meinung über Bracs. Er braucht sich nicht für die Menschen verantwortlich zu fühlen, die in der Heimat vielleicht seinetwegen gefallen sind. Er ist aber mein Lehrer gewesen, hat meinen Verstand geschult und mir ein Ziel gegeben. Und wenn Du nun glaubst, er habe eher etwas zerstört – nun gut, es gibt viele Wahrheiten, und nur die Zukunft kann zeigen, welche Wahrheit für die Heimat die rechte ist.«
S.B. korrespondierte auch mit Bracs; am 15. Dezember 1945 hatte er nämlich erfahren, dass es Bracs gelungen war, nach Westdeutschland zu fliehen.
Die Zusammenhänge sind nicht völlig klar, es bleiben noch viele Fragen. Ist der Julijs Bracs des Dokumentarberichts identisch mit dem des Lehrers S.B.? Ist dieser Dokumentarbericht verlässlich? Welches Ergebnis brachte die Arbeit im Haus des NKWD? Wurden Namenlisten von Kommunisten gefunden? Führte die Arbeit der von Bracs geleiteten Jugendgruppen – direkt oder indirekt – dazu, dass sie für die unter Kommunisten, Juden und Nationalisten von 1941 bis 1944 vorgenommenen Säuberungsaktionen Material lieferte? Ein Schulkamerad S.B.s, der Mitglied derselben Arbeitsgruppe gewesen war, gibt an, dass man »tragische Dokumente von Widerstandskämpfern gegen den Kommunismus gefunden« habe – also aus dem Jahr 1941. Was enthielten diese Dokumente? Listen von Deportierten? Etwas anderes? Welche politischen Wertvorstellungen waren S.B. von seinem Elternhaus vermittelt worden? Wie erlebte er die deutsche Besetzung?
S.B. diente in der deutschen Wehrmacht. Während eines kurzen Augenblicks taucht er aus der Anonymität auf: im Sommer 1944. Er diente in den Nachrichtentruppen hinter der Front. Während eines Marsches durch Lettland begegnete er einem der Kameraden aus Bracs’ Arbeitsgruppe. »Es wurde nicht viel gesprochen. S.B. war bei den Nachrichtentruppen und hatte vielleicht eine klarere
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