Die Ausgelieferten
diejenigen, die noch Kraft oder Lust zum Spazierengehen hatten, am Rande des Stacheldrahtzauns einen kleinen Pfad geschaffen, einen schmalen Strang, der bald wie ein Schlammgraben aussah. Sie standen oft am Zaun und sahen über die Ebene hin: weit, weit weg sahen sie kleine Häuser, nach Anbruch der Dunkelheit drang schwacher Lichtschein zu ihnen herüber, Licht aus hellen Fenstern, aus Heimen in Schweden. Dann wurden die Scheinwerfer eingeschaltet, die den Stacheldraht beleuchteten, und hinter der Lichtrampe der Scheinwerfer konnten sie nur noch die Dunkelheit sehen.
Dorthin kamen sie, einer nach dem anderen. Dort versammelte man alle Balten, die man vorher auf Krankenhäuser in ganz Schweden verteilt hatte. Sie kamen im Dezember, feierten hier Weihnachten. Sie kamen im Januar, sie kamen sogar noch wenige Tage vor der Auslieferung. Es war fast immer windig, es war nach dem Hungerstreik und vor der Auslieferung, es war in dem gleichmäßig grauen Limbo, wohin man sie brachte, nachdem sie so lange im Rampenlicht gestanden hatten. Jetzt schien sich niemand mehr an sie zu erinnern. Es gab keine Demonstrationen mehr, die Kontakte mit der Umwelt waren völlig abgeschnitten, Journalisten durften sie nicht mehr besuchen, ihre Führer hatte man isoliert: dies war die lange graue Zeit mitten auf der Ebene von Skåne, als sie nichts mehr tun konnten und jeder sie vergessen hatte.
Das war sieben Monate nach Bökeberg.
Es gab nichts, absolut nichts zu tun. Sie konnten nur noch warten. »Hier ist es schrecklich langweilig und entsetzlich« , schrieb er, »aber ich habe jetzt gelernt, wie man Patiencen legt, und damit beschäftige ich mich den ganzen Tag. Etwas anderes kann man hier nicht tun. Gailitis ist jetzt auch hierhergekommen. Er ist aber nicht mehr derselbe wie vorher, er ist völlig am Ende, ein gebrochener Mann. Der Doktor ist noch nicht hier, wahrscheinlich liegt er noch im Krankenhaus. Es heißt, dass er seinen Hungerstreik einen ganzen Monat durchgehalten hat.« Er hieß Olgerts Abrams und war erst siebzehn, und für ihn hatte die Zeit in Schweden an Positivem nur dies gebracht: dass er gelernt hatte, Patiencen zu legen. »Besuche bekommen wir nicht«, schrieb ein anderer, »von Zeit zu Zeit lässt sich nur irgendein Pastor sehen. Sie rennen aber nicht mehr so fleißig herum wie damals im November, als sie ständig ihre Klagelieder anstimmten, als wären sie bezahlte Klageweiber. Wir hören uns zwar an, was sie uns sagen, kümmern uns aber nicht mehr um dieses ewige Jammern über unser Schicksal.« In den Briefen anderer klingt jedoch eine andere Auffassung durch. »Die Verhältnisse hier erinnern mich an ein Stück von Gorkij. Es ist nicht wahr, dass unsere Pastoren uns hysterisch gemacht haben, das sind wir schon aus anderen Gründen geworden. In den Krankenhäusern war die Stimmung etwas besser – aber nicht, weil wir dort keine Pastoren zu sehen bekamen, sondern weil wir Menschen begegneten und menschlich behandelt wurden. Jetzt sind wir leider wieder in der gleichen Lage wie vorher, und die Hysterie ist noch größer als im November.« Von den Wachsoldaten hatte aber keiner den Eindruck, die Balten wären hysterisch: der einzige bleibende Eindruck war der einer mahlenden Traurigkeit, einer absolut vernichtenden, gleichmäßigen Hoffnungslosigkeit ohne dramatische Höhepunkte und schwarze Abgründe, einer Hoffnungslosigkeit, die wie eine unendliche Ebene war, eine Ebene voller Regen und geschmolzenem Schnee, voller Schlamm, eine Ebene ohne Bäume oder Berge: Gälltofta, der Winter 1945/ 46, das baltische Internierungslager in dem grauen Limbo.
»Ich liege auf der Pritsche, die früher einem Deutschen gehörte, der sich inzwischen aufgehängt hat, und das ist recht aufmunternd«, schrieb er. »Im übrigen haben wir jede Hoffnung aufgegeben. Jeder scheint uns vergessen zu haben. Jetzt noch zu hungern wäre zwecklos, sie liefern uns sowieso aus. Du wirst kaum verstehen, wie uns zumute ist, und damit möchte ich schließen. Leb wohl.«
Am 18. Januar erhielt das Außenministerium die Nachricht, dass ein russisches Schiff, »Beloostrov«, nach Trelleborg unterwegs sei; daraufhin wurde die Auslieferung für den 23. Januar festgesetzt. Am Nachmittag des 19. Januar »wurde in wohlinformierten kirchlichen Kreisen bekannt, dass die Auslieferung am 23. Januar stattfinden soll«.
Da das Lager jetzt vollständig isoliert war und nach dem 19. Januar auch die Pastoren das Lager nicht mehr betreten durften, stellte sich
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