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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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freilassen würden. Er würde dann nach Deutschland fliehen können. Außerdem bestand eine gewisse Aussicht, in Schweden bleiben zu können. Er besaß eine abgeschlossene Berufsausbildung. Es musste interessant sein, die weitere Entwicklung dieser Affäre zu beobachten. Er hatte im Augenblick zwar keine große Lust weiterzuleben, aber immerhin war es denkbar, dass sein Lebenswille wiederkehrte. Wenn er seinen Selbstmord jetzt aufschob, würde er ihn jederzeit nachholen können.
    Das Positive schien trotz allem zu überwiegen: es gab gute Gründe, in Ruhe abzuwarten. Er saß lange still und lauschte, ob von unten Geräusche zu hören waren. Er fragte sich, woran die anderen denken mochten. Er wartete eine Stunde, dann nahm er die Rasierklinge wieder an sich und legte sie in ein Notizbuch. Vielleicht würde er sie noch brauchen. Er ging die Treppe hinunter. Als er zu den anderen ins Zimmer trat, waren mehrere von ihnen noch wach. Er nahm also an, dass sie über sein Vorhaben informiert waren.
    Vor der Krankenschwester rekapitulierte er teils diese Episode, teils ihre Fortsetzung: den Höhepunkt des Hungerstreiks, den Selbstmord Lapas, den Transport, den Beginn der Zeit im Krankenhaus. Manche Details seines Berichts machen einen zweideutigen Eindruck: es ist höchst zweifelhaft, ob ein Mensch, der sich in einer völlig verzweifelten Lage befindet, sich hinsetzt und Listen mit positiven und negativen Vorzeichen zusammenstellt. Es ist denkbar, dass diese Liste eine nachträgliche Konstruktion ist. Die Fortsetzung des Gesprächs mit der Krankenschwester vervollständigt seinen Bericht ein wenig. Er glaubte damals, der Tod, der Selbstmord, der Augenblick, in dem ein Mensch den Willen zum Weiterleben aufgibt, sei ein dramatisches, verzweifeltes und verwirrendes Erlebnis. Mit Schrecken und Unwillen musste er feststellen, dass die eigentliche Selbstmordhandlung eher trivial als dramatisch und dass die voraufgegangene Wahlsituation eher rational als gefühlsbetont war. Die Situation, der er sich zu stellen hatte, schien von Logik erfüllt zu sein, und er war bereit, das Spiel, dessen äußere Umrisse er auf einem Blatt Papier skizziert hatte, zu Ende zu spielen. Ein Selbstmord geschieht nicht impulsiv, er ist vielmehr die Antwort auf eine lange Reihe addierter Faktoren.
    Er sagt, er habe von dem Selbstmord Abstand genommen, weil die negativen Faktoren nicht schwer genug wogen.
    Worin liegt die Pointe der Geschichte?
    Im Bericht der Krankenschwester findet sich nicht einmal die Andeutung einer Pointe. Sie glaubt zu wissen, er habe alles nur erzählt, um zu erzählen, wie es zugegangen sei. Er habe sich nicht getötet, weil genügend starke Gründe gefehlt hätten, deshalb sei er noch am Leben. Das sei alles. Dies hat sie in ihrem Notizbuch aufgezeichnet. Einige der folgenden Reflexionen sind ihre eigenen. »Ihm fehlte der Glaube an Christus.« »An seinen Handgelenken sah ich Schnittwunden, die älteren Datums waren.«
    Was für ein Mensch war er?
    Er sprach in holprigem und mangelhaftem Deutsch auf sie ein, während sie ihm zuhörte; er murmelte Monologe vor sich hin, die manchmal zu einem lauten Crescendo anschwollen, das sie mit diskreten und dämpfenden Handbewegungen zum Abklingen brachte. Er scheint zwischen mehreren Arten von Selbstmorden unterschieden zu haben. Ein »persönlicher Selbstmord« bedeute, dass ganz besondere private Faktoren bestimmend geworden seien: dieser Selbstmord sei allein der Ausdruck eines persönlichen Misserfolgs. Es gebe aber auch eine andere Art von Selbstmord; als Beispiel führte er den Selbstmord Lapas an: dieser Selbstmord habe einer größeren Sache gedient und sei keine reine Privatsache gewesen. Er habe der Sache der Balten einen dramatischen Anstrich gegeben, habe auf das ihnen zugefügte Unrecht hingewiesen und sei somit kein rein persönlicher Tod.
    Warum ist er dann nicht selbst in den Tod gegangen?
    Die Erinnerung der Krankenschwester sowie ihre Aufzeichnungen sind in dieser Hinsicht wenig aufschlussreich. Er scheint jedoch wiederholt auf dieses Ereignis in der Nacht vom 25. auf den 26. November zurückgekommen zu sein; diese Nacht ist für ihn offensichtlich der dramatische Höhepunkt der gesamten Auslieferung gewesen. Er war in dieser Nacht »allein mit dem Tod«. Diese nächtlichen Stunden hat er möglichst dramatisch zu schildern versucht: die Dunkelheit, die Einsamkeit, die Rasierklinge, den Regen, der gegen die Fensterscheibe peitschte (am 25. und 26. November fiel in Eksjö

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