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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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Vorstellung von dem, was vorging, als wir Frontkämpfer.«
    Er kam nach Schweden.
    Wie erlebte er die verschiedenen Phasen der Internierung?
    Der erste Brief ist datiert: Örebro-Lazarett, den 15. Dezember 1945. Er hat gerade Nachricht erhalten, dass sein Vater, seine Schwester und alle Angehörigen wohlbehalten in Westdeutschland sind. Er schreibt einen kurzen, lebendigen Brief. »Verflucht! Jetzt will ich nicht mehr sterben!« Und er fügt in einem Postskriptum hinzu: »Wir haben neunzehn Tage ausgehalten. Auch das war ein Kampf, und vor dem nächsten zittern wir auch nicht.«
    Der nächste Brief ist vom 5. Januar 1946. Er schreibt an seinen Freund: »Siehst Du nicht ein bisschen zu schwarz? Es gibt nicht so sehr viele lettische Jungen – und müssen die wenigen, die da sind, sich an ein fremdes Land binden?« Der Brief ist voller Spekulationen, er träumt von einer Zukunft im Westen, wo sich alle seine Angehörigen befinden, fühlt sich aber zugleich in die Heimat zurückgezogen, »aber so schnell werden wir nicht hinkommen – vielleicht nach drei Jahren. Dann aber wird das Land nicht mehr so sein, wie wir es verlassen haben, es wird sich alles geändert haben«. Im nächsten Brief vom 16. Januar schweift er immer mehr ins Philosophische ab, es wird immer schwerer zu verstehen, worauf er eigentlich hinauswill. Manchmal wird sein Räsonnement jedoch konkreter. »Eines steht jedoch fest, nämlich dass wir zu Hause aufbauen und Ordnung schaffen müssen, und von ›Schönschreibübungen‹ und ›Kulturleben‹ wird nicht viel zu spüren sein! Wenn man essen will, muss man den Boden pflügen. Es sollen sich aber alle an dieser Arbeit beteiligen, und ich glaube, wir werden es mit dem größten Vergnügen tun.«
    Am Ende des Briefs erwähnt er kurz, dass eine schwedische Krankenschwester ihm einmal beim Schuhausziehen geholfen habe: »trotz allem – Menschlichkeit und verständnisvolle Fürsorge habe ich hier am meisten gefühlt«. Die folgenden zwei Zeilen sind durchgestrichen, lassen sich aber dennoch lesen. Dort steht: »Was Schweden uns Gutes getan hat, ist schon halb wieder abgegolten – dieses Schweden, das sich mit seiner ›Humanität‹ spreizt, uns aber nicht einmal zu sterben erlaubt.« Nach dem Durchgestrichenen folgt: »In Wahrheit empfinden wir keine Hassgefühle – nur Enttäuschung und Misstrauen. Aber so wie hier sieht es ja überall auf der Welt aus.«
    Er schließt mit den Worten: »Es bleibt unser Selbstvertrauen – und unser Glaube an Lettland – und an die Arbeit der Zukunft. Wir singen – noch ist nicht alles zu Ende.«
    Die Briefe sind lang, spekulativ, im Ton recht fröhlich. Am Rand stehen mitunter kleine Anmerkungen: »Die reine Philosophie.« Unter einen Brief hat er seinen vollen Namen gesetzt, und darunter steht, wie ein Titel: »Lette und Ästhet.«
    Später, nach Ränneslätt und dem Krankenhausaufenthalt, versuchte er zweimal, Selbstmord zu verüben – ohne Erfolg. Kurz darauf wurde er ausgeliefert. Er verbüßte eine sechsjährige Freiheitsstrafe; nach der Freilassung lehrte er an der Universität Riga. Er lebt heute in einer der kleineren Städte Lettlands, er hat ein akademisches Examen und arbeitet in der Verwaltung. Seine Geschichte ist damit zu Ende.
    Was für ein Mensch war er?

7
    G espräch in Schweden. Zeit: Juni 1967. Fragment.
    – Entscheidend für die moralische Verantwortung der schwedischen Regierung muss aber dennoch die Frage bleiben: wieviel wussten die Schweden über die Sowjetunion, ihre Rechtsgrundsätze, ihre Strafen?
    – Warum das?
    – Es muss ein Grundprinzip sein, dass jeder Mensch sich über die Konsequenzen seines Handelns Klarheit verschafft – und danach sollte er handeln. Was wusste man im Herbst 1945 über die Sowjetunion?
    – Einiges wusste man schon – auf jeden Fall waren die Schattenseiten des Sowjetsystems bekannt.
    – Dann ist die Auslieferung ein Verbrechen gewesen.
    – Geht es nicht vielmehr darum, welche Informationskanäle einem zur Verfügung stehen? Welchen Kanälen man zu vertrauen vorgezogen hat?
    – Dennoch schickt man 146 Menschen in einen sicheren Tod, nicht wahr?
    – Warum bist du dessen so sicher? Warum empörst du dich nicht genauso, wenn die schwedische Regierung französische Deserteure nach Frankreich schickt, norwegische Kollaborateure nach Norwegen usw.?
    – Es sollte doch wohl selbstverständlich sein, dass die schwedische Regierung gut daran getan hätte, eine Untersuchungskommission einzusetzen, um die

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