Die Ausgelieferten
sofort das Problem, wie man die Balten über das Datum der Auslieferung unterrichten sollte.
Man rief von Stockholm eine in Halmstad ansässige Lettin an. Sie besuchte das Lager Gälltofta am Nachmittag des 2o. Januar, und es gelang ihr, die Botschaft zu übermitteln. Ihr Bericht, der veröffentlicht worden ist, wird mit einer Skizzierung des Milieus eingeleitet: Stacheldraht, starke Scheinwerfer, am Zaun halten »graugekleidete Gestalten mit Maschinenpistolen Wache«.
Ihr Bericht ist kurz, aber sehr gefühlsbetont. Es gelingt ihr, mit ihrem gemieteten Wagen durch die erste Absperrung zu kommen, aber später wird sie von einem heftig erregten Lagerkommandanten gestoppt. »Die Wachposten in der Nähe grinsen dumm.« Die Situation wird lebendig und äußerst dramatisch geschildert. »Ich falle vor dem Kommandanten auf die Knie, knie im Schnee, ich weine und bitte; endlich bekomme ich die Erlaubnis, mich wenige Minuten lang mit meinem ›Onkel‹, Oberstleutnant Gailitis, und meinem ›Vetter‹, Leutnant Knoks, in deutscher Sprache zu unterhalten.«
Sie durfte mit ihnen sprechen. Gailitis, der jetzt schon sehr schwach war und kaum gehen konnte, durfte an den Zaun kommen. Er wurde von zwei jüngeren Balten gestützt. Er war mager, grauhaarig, bleich und hatte fiebrige Augen.
Sie standen auf je einer Seite des Zauns, und sie durfte mit ihm sprechen. Sie sprach lettisch und sagte ihm, die Auslieferung stehe kurz bevor, sie sollten am 23. Januar abtransportiert werden. Die schwedischen Offiziere standen daneben, griffen aber nicht ein.
Gailitis sagte:
– Mein kleines Mädchen, kann uns wirklich niemand mehr helfen?
Sie beugte sich vor und küsste seine Wange, erwiderte aber nichts.
Er fragte wieder:
– Gibt es niemanden mehr, der uns helfen kann, niemanden, der uns helfen will?
Der Kommandant, der neben ihnen stand, erklärte in diesem Moment, dass sie das Gespräch beenden müssten. Gailitis kehrte in seine Baracke zurück. Die Frau übergab dem Kommandanten noch einige Geschenke an die Internierten, die er zu verteilen versprach: einen großen Tulpenstrauß und hundertsechzig Päckchen Zigaretten.
Die Geschichte schien sich zu wiederholen: die Situation war jetzt die gleiche wie in Ränneslätt, als der Hungerstreik auf eine Initiative von außen hin organisiert worden war und die ursprünglich vorgesehenen Auslieferungstermine torpediert hatte. Die Situation war aber doch nicht die gleiche, und die Geschichte wiederholte sich nicht. Sie hatten keine Anführer mehr, Gailitis hatte seine Rolle ausgespielt, die Offiziere besaßen nicht mehr die dominierende Stellung wie früher, Eichfuss war nicht da. Es gab auch keine Pastoren mehr, die als Einpeitscher hätten wirken können. Es sollte sich alles ruhig weiterentwickeln: ohne Streik und mit nur wenigen Selbstverstümmelungen.
An Gälltofta sollten sich viele von ihnen als an den Grund ihres Leidensbrunnens erinnern. »Ich denke oft an meine erste Zeit in Schweden zurück«, schrieb einer von ihnen, »an die Zeit in Bökeberg. Der Krieg war zu Ende, alles war grün und sehr schön. Ich weiß nicht, wie die Dinge sich so haben, entwickeln können. Der jetzige Zustand ist ganz allmählich eingetreten, man hat uns wie Vieh herumgeschubst. Hier ist alles hoffnungslos.«
Alle Baracken stehen noch, und im Sommer wächst auf dem freien Platz Gras. Im Sommer ist die Ebene ein Meer aus Gras, der Himmel ist unendlich, die Luft lau und frisch. Das Geviert mit dem Kopfsteinpflaster ist noch da, ebenso die Pritschen, die Inschriften, das Gras, das zwischen den Planken des Treppenabsatzes hervorlugt. Der ausgetretene Pfad am Zaun ist verschwunden, aber der Zaun ist noch da. Im Sommer, an einem Nachmittag im Juni, ist Gälltofta schön; am Rand des Dorfs, unter den Bäumen, neben der Ebene, einem Meer aus Gras. »Da drüben waren sie, und wir durften nie hin.« »Man konnte sie nur aus der Ferne sehen.« Man kann den Ort aber genau bezeichnen, die Baracken und die Umzäunung sind noch da, auch wenn die Gefühle längst verwässert und verschwunden und die Hoffnungslosigkeit und die Verzweiflung Geschichte geworden sind – wenn man das überhaupt sagen kann.
9
A m 7. Dezember wurde mitgeteilt, dass die Regierung die Verantwortung für die internierten deutschen und baltischen Soldaten der Zivilverteidigung übergeben habe. Das Militär war also nicht mehr verantwortlich, und es gab viele, sowohl in der Regierung wie in der Armee, die das mit einer gewissen Erleichterung
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