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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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Familie, der Junge trägt Winterkleidung, auf der Erde liegt Schnee. Das Foto ist überbelichtet. Die Qualität der Bilder lässt jetzt sehr zu wünschen übrig. Es folgen noch mehrere Bilder von Vabulis und seiner Frau, aber alle sind unscharf. Sie lachen in die Kamera.
    Dann wieder Ränneslätt. Ein völlig sinnloses Bild mit vielen uniformierten Gestalten, die planlos hin und her laufen. Ein verschwommenes Gesicht in einer in ein Gespräch vertieften Gruppe ist mit einem Kreuz, einem Pfeil und zwei Buchstaben gekennzeichnet: »P.V.« Der Himmel ist bedeckt, man sieht Baracken und einen Teil der Umzäunung. Auf der folgenden Seite finden sich zwei Porträts von Vabulis sowie eine Großaufnahme von dem kleinen Jungen. Und dann plötzlich, auf der nächsten Seite, kommt das Bild aus der Leichenhalle. Peteris Vabulis liegt in einem Sarg, der Deckel ist abgenommen, auf seinem Bauch liegen Blumen. Das Bild vermittelt den Eindruck von Ruhe und Frieden. Auf der rechten Wange hat Vabulis eine Narbe, und das rechte Ohr scheint früher einmal durch einen Unfall deformiert worden zu sein – die Wunde ist aber gut verheilt, man kann sie nur mit Mühe erkennen.
    Unter diesem Bild finden sich einige von ganz anderem Charakter. Sie zeigen zwei kleine Kinder, einen Jungen von etwa sieben Jahren und ein kleines Mädchen, die einander umarmen und lachen. Text: »Lübeck, Sommer 1945«. Auf den folgenden Seiten finden sich viele Bilder, die offensichtlich alle im Deutschland der Nachkriegszeit aufgenommen worden sind. Man sieht badende Kinder am Meer, halb versunkene Schiffswracks als Hintergrund für sonnige Ausflugsbilder. Text: »Travemünde 1947«.
    Bilder von Peteris Vabulis gibt es jetzt nicht mehr. Man sieht immer nur die beiden Kinder. Im Hintergrund finden sich zumeist Barackenwände, Straßen, Küchen, glatte Wände, ein Kasernenhof, eine Reihe von Nissenhütten. Der Junge muss jetzt etwa zehn Jahre alt sein. Er lächelt pflichtschuldig in die Kamera. Seine Unterlippe ist auf charakteristische Weise vorgeschoben; wenn man zurückblättert und das Bild aus der Leichenhalle betrachtet, entdeckt man, dass der (von der Seite aufgenommene) Tote das gleiche Profil hat.
    Noch mehr Kinderbilder. Noch 1949 finden sich im Hintergrund fast nur Nissenhütten; diese Bilder sind alle in Lübeck aufgenommen. Dann folgen mehrere Fotos von dem kleinen Mädchen, später noch einige, die beide Kinder zeigen. Text: »Värmland«, später »Västerås«. Die zehn letzten Seiten des Albums sind leer.
    Hinzu kommen noch einige Briefe, die Peteris Vabulis im Herbst und im Winter schrieb. Sie sind an Freunde in Schweden adressiert. Die Schrift ist deutlich, aufrecht; alle Briefe sind auf Lettisch geschrieben.
    Der erste ist vom 9. Januar 1945 datiert, also vor der Zeit in Schweden geschrieben, und gehört eigentlich nicht zu den übrigen. Er ist jedoch nicht ohne Interesse: er ist an Vabulis’ Frau gerichtet. Vabulis befindet sich in der Nähe der russischen Front, einige Kilometer hinter der eigentlichen Kampflinie, und er drückt sich mit Rücksicht auf die Zensur sehr vage aus. Eine genaue Ortsbestimmung ist nicht möglich, aber er hält sich wahrscheinlich im östlichen Lettland auf. Der größte Teil des Briefs besteht aus einer Plauderei über eine erfolgreiche Jagd, die Schnaps und Zigaretten einbrachte. Der Grundton ist optimistisch.
    Am Ende des Briefs spricht er von der letzten Begegnung mit der Familie. Er hatte sie zuletzt in Grevesmühlen in Mecklenburg gesehen, wohin sie geflohen war, um nicht den Russen in die Hände zu fallen. Er hatte seine Familie im Dezember 1944 kurz vor Weihnachten sehen können. Beim Abschied hatte der damals siebenjährige Junge heftig geweint; er war sehr aufgewühlt gewesen, zugleich hatte er sich aber geschämt und seine Tränen verbergen wollen, und davon schrieb der Vater, weil er sich so gut daran erinnerte.
    Der zweite Brief kommt aus Ränneslätt und ist an einen in Schweden lebenden Freund gerichtet. Datum: 12.8.1945. Er beschreibt seine Flucht nach Schweden.
    »Ich lebe unter recht merkwürdigen Umständen, mein Brief wird deshalb sehr kurz. Lettland habe ich am 8. Mai verlassen, aber davon hast Du vielleicht schon in den Zeitungen gelesen. Weil ich ein vereidigter lettischer Offizier bin, bin ich auf einem Pegasus nach Schweden gekommen – per Flugzeug. Am 26. März war ich am Kopf und am Arm recht schwer verwundet worden, und zwar in der Nähe von Jaunpils. Ich sah mich schon unter den Toten,

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