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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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erklärte, dies deute darauf hin, dass Vabulis seinen Selbstmord gründlich vorbereitet haben müsse.
    Unter den nachgelassenen Habseligkeiten des Toten fand man auch ein ausgefülltes Antragsformular, das an die Staatliche Handelskommission gerichtet war. Aus diesem Papier ging hervor, dass seine Ehefrau in Lübeck lebte. Er selbst war am 8. Mai 1945 in Bulltofta, Malmö, interniert worden.
    Es gibt nur ein Foto, das bei dieser Gelegenheit aufgenommen wurde: um 13.35 Uhr auf dem Kai von Trelleborg.
    Das Bild ist von sehr schlechter Qualität. Vabulis liegt auf dem Kai, direkt vor der Vordertür des Busses. Ein Polizist beugt sich über ihn. Man sieht den Schwerverwundeten oder vielleicht schon Toten von der Seite, er ist zusammengesunken, nach vorn geneigt. Ein Sanitäter, der der Kamera den Rücken zukehrt, kniet vor Vabulis und scheint einen Versuch zu machen, die Wunde mit einem Tuch oder einem Lappen zuzuhalten und den Blutstrom zum Stillstand zu bringen. Auf dem Steinpflaster zeichnet sich eine Blutlache von etwa vierzig Zentimetern Durchmesser ab; der Schnee bedeckt das Pflaster nur teilweise. Im Hintergrund erkennt man die Beine einiger der Betrachter, einer von ihnen trägt Reitstiefel. Rechts wird das Blickfeld durch die mit Tarnfarbe bemalte Seite des Busses versperrt.
    Nur einer der drei Männer im Vordergrund des Bildes wendet sein Gesicht der Kamera zu. Es ist ein Polizist. Er hat sich hingehockt, wie zu einem Sprung bereit, und macht einen unbeholfenen Versuch, den Kopf des zusammengesunkenen Sterbenden oder Toten zu stützen. Der Kopf des Polizisten ist geneigt, und auf diesem einzigen Fotodokument von diesem Zwischenfall ist sein Gesicht nur ein verschwommener weißer Fleck. Dieser weiße Fleck ist alles, was auf dem Bild von einem menschlichen Gesicht zu sehen ist.

11
    W er war Peteris Vabulis? Was für ein Mensch war er? Warum hat er sich getötet?
    Die Kriminalpolizei in Trelleborg nahm seine Habseligkeiten in Verwahrung und registrierte sie: eine Reisetasche mit verschiedenen persönlichen Gegenständen, darunter 3,31 Schwedenkronen, ein Pappkarton, der hauptsächlich Lebensmittel enthielt, sowie ein lettischer Pass mit der Nummer TT 011518.
    Diese nachgelassene Habe des Peteris Vabulis wurde in einem Magazin aufbewahrt, bis sein Sohn nach mehreren Jahren erschien, um die Sachen abzuholen. Vabulis’ alte Uniform war auch noch da; das Blut war schon längst verkrustet, fast schwarz. Die Uniform wurde verbrannt. Außerdem waren noch da: ein Kompass mit einer elf Zentimeter langen Trageschnur, eine deutsche Armee-Taschenlampe mit zwei verschiebbaren Filtern, einem roten und einem grünen, eine zusammengefaltete Karte von Lettland und ein kleiner Taschenkalender, der auf den ersten vier Seiten die Anschriften von schwedischen Hilfsorganisationen enthielt. In dem Kalender ist der 21. November mit einem Bleistift angekreuzt.
    Es ist alles noch da, aber die Gegenstände sagen nichts aus, sie beantworten keine Fragen nach der Person des Peteris Vabulis. Eine Armbanduhr mit schwarzem Zifferblatt: sie geht nicht mehr. Ein leeres Osterei, das – vermutlich aus Versehen – unter seine Habseligkeiten geraten ist. Einige leere Briefumschläge. Staub.
    In der Kiste liegt jedoch auch ein Fotoalbum.
    Das erste Bild ist in Riga aufgenommen worden. Peteris Vabulis steht in der Bildmitte, neben ihm sieht man einen kleinen Jungen, den er an der Hand hält. Beide lächeln in die Kamera. Der Junge mag drei oder vier Jahre alt sein. Es ist Winter, man sieht Schnee. Vabulis trägt Uniform. Auf dem nächsten Foto trägt er Zivilkleidung, es ist Sommer, er schiebt einen Kinderwagen. Der kleine Junge auf dem nächsten Bild ist allein: er steht auf einer Landstraße und runzelt nachdenklich die Stirn: die Sonne scheint grell, am linken Bildrand sieht man den Schatten eines Menschen. Text unter diesem Foto: Imants, Riga 1942. Dann ein Porträt von Peteris Vabulis. Ein Sommerbild aus Riga – einige Gestalten, die aus großer Entfernung aufgenommen worden sind; Gesichter sind nicht zu erkennen.
    Dann plötzlich: Ränneslätt. Die lettischen Offiziere haben sich für dieses Gruppenfoto hingestellt, im Hintergrund sieht man eine Wand, alle lachen in die Kamera. Dieses Bild ist offensichtlich im Sommer gemacht worden. Alle tragen noch ihre deutschen Uniformen. Dieses Foto entspricht nicht dem chronologischen Ablauf der Ereignisse; die nächste Seite ist mit Bildern aus dem Jahr 1943 gefüllt. Man sieht ein Bild von der ganzen

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