Die Ausgelieferten
Frühjahr 1945 flüchtete sie etappenweise immer weiter nach Westen. Im Mai 1945 kam sie mit ihren Kindern nach Lübeck, wo sie in einem der großen Flüchtlingslager unterkamen. Dort ließen sie sich nieder, und es ging ihnen recht gut; sie hatten zu essen, eine Baracke zum Wohnen, sie wussten zwar nicht, was aus dem Mann geworden war, von dem sie sich in einem kleinen ostdeutschen Dorf verabschiedet hatten, hofften aber, ihn bald wiederzusehen. In der Baracke bewohnte jede Familie ein durch graue Wolldecken abgeteiltes kleines Zimmer. Dort kochten sie ihr Essen auf einem kleinen Spirituskocher, Nachbarn halfen ihnen, wenn es nötig war, es ging ihnen gut. Sie überlebten.
Im September erfuhren sie, dass Peteris Vabulis sich in einem schwedischen Lager in Sicherheit befand.
Im November kam die Nachricht, dass er von einer Auslieferung bedroht war: sie erhielten die Neuigkeit durch eine lettische Zeitung. Es wurde sofort eine Unterschriftensammlung veranstaltet. Man schickte eine Bittschrift an die schwedische Regierung, und Emilija-Elena Vabulis unterschrieb ebenso wie ihr Junge, obwohl sie eigentlich keine Angst hatten: sie konnten sich nicht vorstellen, dass Peteris Vabulis am Ende doch ausgeliefert werden könnte. Sie bekamen Briefe von ihm, schickten ihm ein Lebensmittelpaket, aber er schrieb zurück, dass es nicht gerade Lebensmittel seien, die er jetzt am nötigsten hätte. Das war der Winter 1945/ 46 in Deutschland, der erste und furchtbarste Nachkriegswinter. Deutschland war ein hungerndes Chaos, aber wer im Lager saß, hatte es dennoch einigermaßen gut, meinten sie.
Sie hörten recht wenig von ihm, die Verbindungen waren miserabel. Ende Januar erfuhren sie von seinem Tod.
Alle drei erinnern sich noch sehr gut an diesen Tag, die Ehefrau und die beiden Kinder. An einem der letzten Januartage saßen sie wie gewöhnlich in ihrer Baracke; draußen war es kalt und grau, als sie aus Schweden eine lettische Exil-Zeitung erhielten. Die erste, die in der Zeitung las, war eine Nachbarin, die in einem Verschlag neben ihrem wohnte. Diese Frau las die Zeitung gründlich und aufmerksam durch, gab sie dann einem anderen, und schließlich wurde es in der Baracke ganz still. In diesem Augenblick begriff Emilija-Elena Vabulis, dass etwas geschehen war.
Sie nahm die Zeitung und las selbst.
So erfuhr sie vom Tod ihres Mannes: nicht durch ein Telefongespräch, nicht durch eine Botschaft, nicht auf offiziellem Wege, sondern durch die Zeitung, die ausführlich über alles berichtete. Darin stand, dass die Schweden die Balten am Ende doch noch ausgeliefert hätten, alle Legionäre seien nach Trelleborg gebracht worden, wo ein russisches Schiff auf sie gewartet habe. Die Legionäre seien in Bussen dorthin gebracht worden, in diese schwedische Stadt Trelleborg, und seien auf das russische Schiff gebracht worden. Der lettische Leutnant Peteris Vabulis habe auf dem Kai ein Messer hervorgeholt und sich die Kehle durchgeschnitten. Er sei sehr schnell verblutet, nichts hätte ihn mehr retten können.
So war es: so erhielt sie die Mitteilung vom Tod ihres Mannes, erinnert sie sich. Sie stand mitten in der großen Baracke mit den durch graue Wolldecken abgeteilten Verschlägen und las, dass ihr Mann Selbstmord begangen hatte. Um sie herum standen die anderen und starrten sie an. Da standen auch ihre kleine Tochter von drei Jahren und ihr Sohn, der siebeneinhalb Jahre alt war. Sie las, und als sie begriffen hatte, was da stand, begann sie zu schreien.
Die Kinder waren klein, das Mädchen zu klein, um etwas verstehen zu können. Der Junge konnte verstehen und dennoch nicht verstehen. Er hatte seinen Vater ein Jahr zuvor zu Weihnachten gesehen. Damals war der Vater groß und stark gewesen, und jetzt hatte er sich mit einem Messer den Hals durchgeschnitten: das war absurd und unmöglich zu begreifen. Er weiß aber noch, wie seine Mutter an diesem Tag reagierte: sie stand mit der Zeitung in der Hand auf dem Fußboden der Baracke in Lübeck und schrie ununterbrochen, schrie und schrie, als wollte sie nie mehr aufhören zu schreien.
Einige Wochen vorher hatten sie alle drei eine Einreisegenehmigung nach Schweden erhalten. Peteris Vabulis hatte die Formalitäten von Ränneslätt und später vom Krankenhaus aus erledigt. Jetzt würde sie also nach Schweden fahren können, wenn sie wollte. Aber sie wollte nicht. Nach diesem Tag im Januar, an dem sie vom Tod ihres Mannes gelesen hatte, erschien es ihr undenkbar, dass sie nach Schweden
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