Die Ausgelieferten
aber es ist mir in letzter Minute gelungen, in einem Flugzeug mitzufliegen, das wie ein Schrotthaufen aussah: das Ding hatte jedenfalls noch Flügel und ein rotes Kreuz am Rumpf. Das Benzin floss aus allen Ritzen, aber die Kiste hielt glücklicherweise, obwohl der Flug recht beschwerlich war. Nach zweieinhalb Stunden waren wir in diesem gastfreundlichen Land. Jetzt bin ich wieder fast gesund, aber mein Aussehen hat sich durch den Treffer etwas verändert. Jedoch nicht zu sehr – meine alten Freunde würden mich noch wiedererkennen.
Das Leben hier in Ränneslätt ist ganz und gar nicht übel, obwohl wir natürlich unsere Freiheit vermissen. Völlig beschäftigungslos, brauchen wir uns trotzdem nicht zu langweilen, weil mehrere Letten hier sind. Es ist nur schade, dass wir die Deutschen nicht loswerden können, die hier in Massen herumlaufen. Sie haben sich noch immer nicht geändert: zuerst wurde die Welt erschaffen, dann sie, dann kommt eine ganze Weile gar nichts, und dann erst wir anderen. Am schlimmsten ist jedoch, dass sie uns bei jeder Gelegenheit an die Wand drücken wollen, was wir uns allerdings nicht gefallen lassen. Sehr unangenehm ist auch, dass die schwedischen Behörden zwischen ihnen und uns nicht den geringsten Unterschied machen. Es ist deshalb durchaus denkbar, dass wir zusammen mit ihnen ›in das Vaterland‹ geschickt werden, obwohl wir mit Deutschland und den Kriegszielen der Deutschen nichts zu tun gehabt haben. Wir hoffen aber dennoch, dass die Zeit eine für uns günstige Lösung bringen wird. Selbst wenn wir den Engländern in die Hände fallen sollten, kann uns nicht viel passieren, denn wir haben keine Kriegsverbrecher in unseren Reihen.«
Der nächste Brief ist einen Monat später geschrieben: Ränneslätt, den 8.9.1945. Er ist an einen Studienfreund gerichtet, und hier schneidet Vahulis zum erstenmal politische Fragen an.
»Vielleicht werden wir das Stiftungsfest unserer Studentenvereinigung in einem freien Lettland feiern können! Es ist wahr, mein Freund, alle Anzeichen deuten darauf hin, dass dieser unser Wunsch keine Utopie ist. Das spüren wir hier im Lager, obwohl man uns noch nicht erlaubt hat, den Waffenrock wegzuwerfen. Wir blicken immer noch durch Stacheldraht nach draußen, aber das kennen wir ja von der Front her. Wir sind sogar bereit, in schwedischen oder englischen Uniformen zu kämpfen, wenn es sein muss, um in der Welt Ordnung zu schaffen und einen totalen Frieden herbeizuführen. Im Augenblick haben wir den Krieg und die Uniformen natürlich satt und würden am liebsten ins zivile Leben zurückkehren – irgendeiner Arbeit nachgehen, die unsere Existenz sichert, jeder beliebigen Arbeit, damit wir nicht länger das Brot der gastfreien Schweden essen müssten. Nach allem, was ich in den letzten Tagen des Vaterlands mitgemacht habe, würde ich diese Erinnerungen gern in einem schwedischen Wald oder auf einem schwedischen Bauernhof loszuwerden versuchen, wo ich mein Brot selbst verdienen könnte. Hier im Lager fällt es sehr schwer, diese schmerzlichen Erinnerungen loszuwerden. An dem Tag, an dem ich verwundet wurde, wollte es der Zufall, dass ich meinem Freund Freibergs begegnete. Der Feind war unerhört überlegen und griff wochenlang ununterbrochen an. Unsere Kräfte waren zu schwach, wir waren müde und hatten schwere Verluste, wir mussten mehrere Tage hintereinander kämpfen, ohne Ruhepause und ohne Essen.
Von meiner Frau und den Kindern weiß ich nichts. Ich befürchte, dass man sie nicht rechtzeitig vor den Absichten der Engländer gewarnt hat, die das von ihnen besetzte Gebiet den Russen überlassen wollen. Sie hätten nicht mehr lange nach Westen weiterzugehen brauchen, um in Sicherheit zu sein – aber selbst das kann sehr schwer sein, wenn man zwei kleine Kinder bei sich hat.«
Es folgt eine größere Anzahl sehr kurzer Briefe, die alle aus der Zeit vor dem Beginn des Hungerstreiks stammen. Sie sind an Freunde in Schweden gerichtet; in ihnen geht es ausschließlich um Waschpulver, Geld, Essenmarken, Kaffeemarken, in der letzten Zeit auch um die Möglichkeit, Lebensmittelpakete nach Deutschland zu schicken. Der letzte dieser kurzen Briefe ist vom 12.11.1945 datiert, also zehn Tage vor Beginn des Hungerstreiks geschrieben.
Unter den Briefen ein Zeitungsausschnitt: es ist eine Anzeige, der Name der Zeitung sowie der Erscheinungstag sind unbekannt. Sie lautet wie folgt:
»An Enija in Lübeck. Ein gutes neues Jahr 1946!
Am 14.12. erhielt ich Deine ersten
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