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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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»Beloostrov« legte ab, drehte schwerfällig bei, wendete im Hafenbecken und glitt langsam zwischen den beiden Armen der Hafeneinfahrt hinaus auf die offene See und verschwand. Die Abenddämmerung war schon gekommen, auf dem Wasser lag leichter Nebel, und nach einer halben Stunde war das Schiff schon völlig außer Sichtweite. Alle Internierten befanden sich unter Deck. Niemand winkte. Die Auslieferung war beendet.
    Die letzten Aufnahmen von den Lagern sind nach der Auslieferung gemacht worden. Einige der Polizisten wurden nämlich zurückgeschickt, um Aufräumarbeiten durchzuführen. Ein Polizist knipste einige Bilder. Auf einem stehen vier Polizisten vor einer Baracke im Hintergrund: dies ist das Lager von Gälltofta. Im Hintergrund Stacheldraht und Spanische Reiter, hinter der doppelten Absperrung erkennt man die Baracken mit ihren fast völlig flachen Dächern. Ein wohlbekannter Anblick. Die vier Polizisten auf dem Foto kehren jedoch den Baracken den Rücken zu und lachen in die Kamera. Sie haben einander die Arme auf die Schultern gelegt. Die Sonne scheint grell, die Schatten fallen schräg und sind scharf abgegrenzt, auf der Erde sieht man eine dünne Schneedecke. Alle vier Männer lachen in die Kamera, es muss ein schöner Tag sein. Das Bild ist ruhevoll und entspannt zugleich. Im Hintergrund sind keine Menschen zu sehen, keine Bewegung, kein Leben.
    Auf der Rückseite des Fotos steht: »Nach d. Räum.«

IV  DIE HEIMKEHR
    Personen, die in den der Auslieferung folgenden Jahren aus Lettland geflohen sind, haben berichtet, dass etliche der Ausgelieferten außerhalb Rigas gehängt worden sind, ja, dass man die Toten sogar Schulkindern zur Abschreckung gezeigt hat. Ein Deutscher von der »Beloostrov«, der wegen einer Krankheit nach Ostdeutschland weitergeschickt worden war und von dort nach Westdeutschland geflohen ist, hat 1947 bezeugt, dass mehrere Balten wegen Landesverrats hingerichtet worden sind; er selbst hat mehreren Erschießungen neben einem Massengrab beigewohnt.
    Birger Nerman: »Das Baltikum soll leben«
    (»Balticum skall leva«) (1956)

1
    S ie hörten das schwache Vibrieren, Stimmen, das leise Rollen, als die »Beloostrov« wendete, das härtere Stampfen außerhalb der Hafeneinfahrt, und durch die Bullaugen konnten sie sehen, wie die schwedische Küste in der Dämmerung verschwand. Nach einer halben Stunde hörten sie, wie aus einem Lautsprecher Akkordeonmusik erklang. Sie blickten einander mit schiefem Lächeln an, aber die Akkordeonmusik wurde nicht abgestellt, der Lautsprecher plärrte bis zum späten Abend beharrlich weiter. Der Lautsprecher war miserabel; sie saßen auf ihren Pritschen und hörten zu. Gegen 19 Uhr erfolgte die erste Inspektion.
    Ein russischer Offizier, der fließend Lettisch sprach, ging von Kajüte zu Kajüte und hielt eine kleine Ansprache. Sie war sehr kurz und lief darauf hinaus, dass die Internierten sich jetzt ruhig fühlen könnten, sie brauchten keine Angst mehr zu haben, es würde ihnen nichts Böses geschehen. Der Offizier bekam keine Antwort, seine Rede dauerte etwa eine Minute, dann machte er auf dem Absatz kehrt und ging hinaus. Sie sprachen mit leisen Stimmen aufeinander ein. Was würde mit ihnen geschehen? Sie waren sich alle darin einig, dass diese kleine Ansprache nichts bewies, weder so noch so.
    Eine Viertelstunde später erschien eine Gruppe russischer Soldaten, die alle Dokumente an sich nahmen, die Männer auf langen Listen registrierten, Wertgegenstände einsammelten und dann wieder verschwanden. Der Seegang war jetzt ziemlich stark, das Schiff rollte hart, und sie hatten offensichtlich eine schwere Nacht vor sich. »Viele wurden seekrank, ich selbst schlief aber lange und tief; es war, als hätte ich etwas sehr Schweres und Hartes hinter mich gebracht und als müsste ich jetzt vor lauter Erschöpfung ausruhen und schlafen.«
    Am frühen Morgen wurden sie von einem heftigen Stoß geweckt: mehrere von ihnen fielen aus dem Bett, und einen Augenblick sah es nach einer Panik aus. Das Schiff hatte offenbar eine große Eisscholle gerammt. Sie lagen lange still in der Dunkelheit und lauschten den Geräuschen und Kommandos draußen. Aber bald liefen die Schiffsmotoren wieder, und sie konnten wieder schlafen.
    Von den Wachen sahen sie nicht viel. Noch immer konnte alles geschehen.
    Als der Morgen kam, erlaubte man ihnen, in kleinen Gruppen an Deck zu gehen, um zu rauchen. Das Wetter war immer noch schön, das Meer bleigrau, und die Wellen weit ruhiger als

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