Die Ausgelieferten
sein, nachdem zuvor eine individuelle Prüfung ihrer Fälle stattgefunden hatte. Ob die Urteile gerecht waren, ob die Verhandlungen Schauprozesse waren oder nicht – darüber lässt sich diskutieren. Es lässt sich aber feststellen, dass die Anklagepunkte in praktisch allen Fällen behaupteten Kriegsverbrechen gegolten haben, Kriegsverbrechen, die in der Zeit der deutschen Besetzung in Polizeiverbänden hinter der Front begangen wurden.
Und was noch? Lassen sich noch andere Schlussfolgerungen ziehen? Es ist auch leicht zu behaupten, dies alles sei empörend naiv. Dass alles Material, das man ihm gegeben habe, gefälscht sei und dass dessen Veröffentlichung ein schweres Vergehen gegen die Ausgelieferten sei, denen Schweden schon genug Böses zugefügt habe. Vielleicht verhält es sich so: auf der anderen Seite hat man in Schweden seit bald zweiundzwanzig Jahren die Sowjets beschuldigt, sie willkürlich und ohne Gerichtsverfahren ermordet zu haben, und dies hat man behauptet, ohne den Schimmer eines Beweises in der Hand zu haben – man könnte sagen, dass jetzt das Gleichgewicht wiederhergestellt ist. Dennoch zögerte er lange, lange, ehe er sich entschloss, das russische Material zu veröffentlichen. War es korrekt? Diese Frage bewegte ihn in diesem Winter ständig, sie verwandelte dies Buch und die Untersuchung, die einmal eine Lust gewesen, dann aber zur Qual geworden war. Was tat er eigentlich? Beschäftigte er sich mit einem amateurhaften Gerichtsverfahren, das die bereits Verurteilten betraf; sollte er den Ausschlag geben können? Er, der Schnüffler? Sollte er entscheiden?
Nein, es war unmöglich festzustellen, ob die Angaben, die er in Lettland erhalten hatte, korrekt waren oder nicht. Er konnte nur feststellen, dass es – sollten es Fälschungen sein – sehr geschickte Fälschungen waren. Die Biographien waren nicht aus der Luft gegriffen, sondern stimmten weitgehend mit den tatsächlichen Lebensläufen der Betroffenen überein. In einigen Fällen konnte er Nachforschungen anstellen und die Anklagen mit den Versionen der Angeklagten vergleichen. Es gab natürlich Unterschiede, aber diese betrafen eher die Deutung und Auslegung von Tatsachen als die Tatsachen selbst.
Ein Beispiel: Er war lettischer Berufsoffizier, und als die Deutschen kamen, meldete er sich freiwillig, weil er schließlich nur einen Beruf hatte: den des Offiziers. Seine Familie flüchtete später in den Westen, er selbst kam nach Schweden und wurde ausgeliefert. Im August 1946 wurde er wie die anderen freigelassen und arbeitete bis Juni 1947 in Riga, als er von neuem verhaftet wurde. Den Archiven zufolge wurde er angeklagt, 1944 in einem Polizeibataillon gedient zu haben, das in Lettland hinter der Front operiert hatte; dabei soll er an Verfolgungen und an Grausamkeiten gegen die Zivilbevölkerung beteiligt gewesen sein. Er wurde zu fünfzehn Jahren Arbeitslager verurteilt, kam in ein Lager im nordwestlichen Sibirien und wurde nach acht Jahren freigelassen. 1955 kehrte er nach Riga zurück.
Entsprach dies den Tatsachen?
Beim Interview, bei dem kein Außenstehender zugegen und bei dem der Ton frei und offenherzig war, fragte der Schwede ihn nach der Urteilsbegründung. »Tja«, erwiderte er und lachte leicht, »sie konnten mich nur anklagen, einem Polizeibataillon angehört zu haben.« Traf das zu? »Ja, ich bin damals zu einem Polizeibataillon abkommandiert worden, in dem ich fünf Wochen lang Dienst tat. Nur fünf Wochen! Ich war zwangskommandiert, habe niemanden erschossen, weder Juden noch Letten. Was dieses Bataillon vorher und nachher gemacht hat, kann ich ja nicht wissen. Ich habe mich aber keines Kriegsverbrechens schuldig gemacht. Und wegen dieser fünf Wochen wurde ich zu fünfzehn Jahren verurteilt. Zu fünfzehn Jahren! «
Soweit dieses Beispiel. Der Mann machte einen offenen und sympathischen Eindruck, diskutierte eingehend alle Probleme, die mit dem Schicksal der Ausgelieferten zusammenhingen. Er schien das Gespräch nicht abbrechen zu wollen. In diesem Fall scheint es so zu sein, dass die Angaben der Dokumente nicht völlig aus der Luft gegriffen sind. Die Schuldfrage ist etwas ganz anderes. Was sich feststellen lässt, ist dies: dass die Anklagen bei dieser Verhandlung mit großer Wahrscheinlichkeit nichts anderes gewesen sind als eben Anklagen, während der Besatzungszeit in einem Polizeibataillon gedient zu haben.
Lief er geradewegs in eine Falle? Wurde er betrogen und düpiert?
Er schien zwischen einer Skepsis,
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