Die Ausgelieferten
verstehen, warum?
– Vielleicht haben sie Angst, hierherzukommen?
– Aber das brauchen sie doch nicht.
– Vielleicht können sie sich die Fahrt nicht leisten?
– Ja, das ist möglich, sagt er. Er hält seine Hände zwischen den Knien gefaltet und schweigt verwirrt und niedergeschlagen. Nein, sagt er dann, sie haben sicher kein Geld für die Fahrt. Es ist eine lange Reise.
– Vielleicht ist es aber auch so, sagt der Schwede, dass sie sich für politische Flüchtlinge halten und meinen, sie könnten die Heimat grundsätzlich nicht besuchen.
– Ja, sagt er. Ja. Nun, ich weiß ja nichts, weil sie auf diese Fragen nie antworten. Es wäre aber schön, die Jungen einmal wiederzusehen.
Die Briefe? Wovon sprechen sie in ihren Briefen?
– Manchmal, sagt er, ist es zu merken, dass wir einander so unähnlich geworden sind, so fremd. Das merkt man an den Briefen. Wir haben ja so verschiedene Dinge erlebt. Manchmal denke ich, sollten einmal alle Grenzen fallen und alle Menschen ungehindert überallhin reisen können, würden wir vielleicht auch nicht mehr zusammenleben können. Vielleicht ist es schon so weit, dass … manchmal weiß ich gar nicht mehr, ob ich es überhaupt wagen würde.
– Wagen?
Aber er antwortet nicht.
– Wie war es für Sie, nach Lettland zurückzukehren?
– Oh, sagt er und lächelt, es war sehr schön, aber das wird niemand verstehen. Es hatte sich alles so verändert, man hatte so viel wiederaufgebaut. Es war, als hätte Lettland allmählich wieder zu leben begonnen. Wir hatten es aufgebaut, und nun lebte es wieder, wie vor dem Krieg.
– Wir?
– Ja, wir haben es ja wiederaufgebaut.
– Aber die Lager? Wie war es in den Lagern?
Er schweigt einen Augenblick.
– Nein, sagt er schließlich, das würden Sie doch nicht verstehen. Es ist schwer zu erklären. Ich kann alles beschreiben, wie wir lebten, was wir aßen, wie wir arbeiteten, was wir in unserer Freizeit machten. Aber Sie würden dennoch nichts verstehen.
Über das Leben und die Verhältnisse in den sowjetischen Arbeitslagern gibt es unendlich viele Augenzeugenberichte; sie sind sehr exakt und enthalten detaillierte Angaben über Essensportionen, die Breite der Schlafpritschen, die Höhe der Absperrungen, die Arbeit und die Organisation der Lager. Sämtliche Berichte sind präzis und genau. Einige sind von Hass geprägt, andere von ideologischen Vorurteilen, einige von Verständnis. Die Literatur über diese Lager ist zahlreich und umfassend. Er las viele Schilderungen und hörte viele Augenzeugen, aber nie fand er sein persönliches Unvermögen besser eingefangen als in diesen Worten: Sie würden dennoch nichts verstehen. Und danach machte er einen Punkt: 1947 wurden sie verurteilt. Sie saßen viele Jahre, Anfang der fünfziger Jahre begann man, sie freizulassen, die meisten wurden einige Jahre später entlassen. Am 17. September 1955 verkündete der Oberste Sowjet seine allgemeine Amnestie »der sowjetischen Staatsbürger, die während des Großen Vaterländischen Krieges mit den Besatzern zusammengearbeitet haben«. Alle diejenigen, die mit den Deutschen zusammengearbeitet hatten, kamen nicht in den Genuss dieser Amnestie. Aber ein Abschnitt in der Geschichte der Arbeitslager war damit beendet, und die Legionäre hatten ihre Strafen verbüßt.
»Es klingt vielleicht merkwürdig, aber ich bin heute Sozialist.« Ist dieser Mann aufrichtig? »Ich habe viel gesehen. Ich habe viel erlebt. Es ist schwer, die eigene Entwicklung zu beschreiben.« Gab es in den Lagern eine politische Schulung oder Indoktrinierung? »Das gab es, aber ich bin nicht deshalb Sozialist geworden.«
Warum dann?
Der Legionär Y. sprach in einigen Sätzen über seine Einstellung zur Sowjetunion, und während dieser Augenblicke machte sich auf seinem Gesicht ein schiefes und vieldeutiges Lächeln breit. Auf Fragen nach seinem heutigen politischen Standort antwortete er jedoch ausweichend und sah den Schweden mit einem merkwürdigen Ausdruck in den Augen an. Dieser ging daraufhin zu einer anderen Kategorie von Fragen über.
Wie viele Antworten? Was für Antworten?
Viele Antworten. Ebenso viele Antworten wie Individuen.
4
S ie beendeten ihr Gespräch, gaben einander die Hand und trennten sich. Sie hatten in einem Park gesessen, es war spätabends, er stand auf, verabschiedete sich und ging, während der Schwede sitzen blieb. Das achte Gespräch in Riga, im September 1967, Dauer zwei Stunden und vierzig Minuten, es war Abend, Altweibersommer. Der Schwede
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