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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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blieb sitzen und dachte: da geht er, nachdem er mich an seinem Leben hat schnüffeln lassen. Er hat keine Angst gehabt, ist völlig offen gewesen, aber ich habe nichts weiter getan als geschnüffelt, wie ein Hund. Ich komme als Fremder daher, schnuppere und versuche, von seinem Leben Witterung zu bekommen.
    Er blieb auf der Parkbank sitzen und dachte: der Geruch seines Lebens bleibt vielleicht haften wie eine Witterung. Ich bleibe sitzen und prüfe das nach, und wenn der Geruch verschwunden ist, kann ich anfangen, ihn zu beschreiben.
    Leben? Tod? Am Tag zuvor hatte er das umfassende dokumentarische Material über das Lettland des Zweiten Weltkriegs durchgesehen: über die Vernichtungsaktionen, die Kollaborateure, die Partisanenverbände, die Nationalisten und ihren Kampf gegen die Deutschen, über die Kommunisten und ihren Kampf gegen die Deutschen, über die Vernichtungslager. Das deutsche Material ließ sich am leichtesten lesen, aber es gab noch etwas anderes, was ihm sehr zu schaffen machte, die Fotografien nämlich. Die Vernichtungsaktionen schienen auch einen absurden pornographischen Aspekt gehabt zu haben, der sich in diesen unendlichen Reihen von Bildern niedergeschlagen hatte. Die Aufnahmen waren von Deutschen und lettischen Kollaborateuren gemacht worden; sie zeigten Menschen, die zum Sterben vorbereitet wurden. Die meisten schienen Frauen zu sein, immer wurden sie gezwungen, sich auszuziehen, und dann trieb man sie nackt zu den Massengräbern, an deren Rändern sie erschossen wurden. Der jeweilige Fotograf muss überall in der Nähe gestanden haben; die Bilder waren ausgezeichnet, gestochen scharf. Sie zogen sich in kleinen, frierenden Gruppen aus, hielten die Hände ängstlich gegen die Brüste gedrückt und starrten ausdruckslos in die Kamera. Sie wussten es nicht, aber sie waren schon Bestandteile eines Tagesberichts: 73 Liquidierte, 144 Liquidierte, 12 Hingerichtete. Judenfrei. Kommunistische Elemente. Nationalisten. Unzuverlässige. Eins der Bilder war aus einer Entfernung von etwa zehn Metern neben einem Massengrab aufgenommen worden; man konnte nur einen Teil des Leichenhaufens sehen. Zuoberst lag, auf eine fast herausfordernde Weise, eine junge, vollreife Frau; unter ihr blutige Körperteile, Leiber, Brüste und Glieder. Sie breitete die Arme wie in Ekstase aus, ihr Kopf war zurückgeworfen, die Beine leicht gespreizt. Warum wurden solche Fotografien aufbewahrt? Weil dies die Pornographie des Todes war. Die Bilder waren oft aufgenommen worden, als die Opfer gerade auf das offene Grab zugetrieben wurden. Hinter ihnen ein junger Mann mit einem Gewehr und ein Zivilist mit einer Baskenmütze: wer war dieser Mann? Dies waren Bilder aus dem Baltikum, es waren unendlich viele, es schien kein Ende zu nehmen, was hatten sie mit der Auslieferung der Balten zu tun?
    Was hatten sie mit der Auslieferung zu tun?
    Statistik. Zahlen. Das Lager in Salaspils, die Wand, an der die Hinrichtungen vorgenommen wurden. Er hatte sie gesehen. Die trockene Heide. Fotokopien der Monatsergebnisse der Vernichtungskommandos. Fazit? 320.000 oder 410.000 Liquidierte? Oder nur 128.650? War er auf dem Weg, sich verblenden zu lassen, so dass er die Deportationen vergaß, die die Russen im Sommer 1941 veranlasst hatten? Was war mit diesen Deportierten geschehen? Hatten sie zurückkehren dürfen, waren sie in den Arbeitslagern gestorben, was war mit ihnen geschehen? Wie viele dieser höchstens vierzig Verurteilten hatten tatsächlich an diesen entsetzlichen Kriegsverbrechen teilgenommen, die während der deutschen Besetzung des Baltikums fraglos verübt worden waren? Einige? Eine Handvoll? Zehn? Mehr?
    Was jetzt noch übrigblieb, war seine ständig wachsende Verwirrung und eine Witterung: Leben. So hatte er es sich nicht vorgestellt. Anfänglich hatte er nur eine einfache, unkomplizierte Frage beantworten wollen: war es rechtens, sie auszuliefern? Jetzt saß er in einem Park, von Licht und Schatten umgeben, und schrieb in ein Notizbuch, als könnten seine Aufzeichnungen ihn erlösen. Jenseits der Büsche und Bäume die schwachen Geräusche des abflauenden Verkehrs. Er wollte eine Antwort formulieren, aber es schien unmöglich zu sein, diese Antwort in Worte zu fassen. Wenn ich dazu nur Gerüche nehmen könnte, dachte er, könnte ich doch nur alle Witterungen, die ich in meinem Leben aufgenommen habe, zu einer verschmelzen: wie ein Hund. Er hatte sich daran gewöhnt, sich mit Gefühlen zu beschäftigen, die dann in Worte gekleidet,

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