Die Ausgelieferten
Ausnahmen, so im Falle des jüdischen Medizinprofessors Ernst Neisser. Seine Ehefrau war schwer nervenkrank, und er wollte sie nicht verlassen. Er reiste mit ihr in Deutschland von Stadt zu Stadt, »damit sie so wenig wie möglich von allem Bösen, das sie umgab, Kenntnis erhielt«. Im Oktober 1941 nahm sie sich das Leben. Einige Wochen später suchten schwedische Freunde Neissers um die Einreiseerlaubnis für ihn nach. Die Antwort war nein. Im Februar 1942 versuchten sie es von neuem, diesmal mit einer imponierenden Reihe von Referenzen schwedischer Wissenschaftler. Die Antragsteller baten um eine möglichst rasche Erledigung des Falles. Das Gesuch wurde aber laut Aktennotiz von Legationsrat Hellstedt am 5. Mai 1942 »ad acta« gelegt. Hellstedt fügte noch mit Bleistift hinzu: »Nächster Verwandter ein Vetter (Flüchtling) in Schweden. Es ist nichts Neues vorgebracht worden, deshalb ist eine erneute Rückfrage bei der Sozialbehörde unnötig. Es erscheint auch höchst unwahrscheinlich, dass N. von einer Deportation bedroht ist. Gesuch ist zu gegebener Zeit abzulehnen.« Im September wurde ein neuer Antrag gestellt, der vom Außenministerium genehmigt wurde. Es war aber zu spät, Prof. Neisser erhielt keine Ausreisegenehmigung aus Deutschland. In der Nacht zum 4. Oktober 1942 beging er Selbstmord. Legationsrat Hellstedt hat der Kommission gegenüber angegeben, dass die Angelegenheit dem Außenminister, Herrn Günther, vorgetragen worden sei. Wann dies geschah, weiß niemand, ob im Oktober 1941 oder im Februar 1942. Im Untersuchungsbericht finden sich keine weiteren Angaben.
Hinter jedem Fall stehen die lakonischen Kommentare der Untersuchungskommission: die freundliche, diskrete Art von Beamten, Kollegen für bedauerliche kleine Missgriffe Rüffel zu erteilen. »Es erscheint verwunderlich, dass.« »Es erscheint bemerkenswert, dass.« Renate J., Jüdin, 1922 in Breslau geboren, verheiratet mit dem »arischen« Schriftsteller Jochen Klepper. Im Oktober 1941, als die Lage der Juden in Deutschland unerträglich geworden war, suchten sie um die Einreiseerlaubnis nach Schweden nach. Eine Stellung in Schweden war schon in Aussicht, Geld genügend vorhanden. Die Sozialbehörde meldete Bedenken an, worauf das Außenministerium ablehnte. Am 26. November 1941 unternahmen sie einen neuen Versuch. In Deutschland war höheren Orts angedeutet worden, dass die Ausreise genehmigt würde, falls die Schweden ihr Plazet gäben. Daraufhin lehnte das Außenministerium sofort ab, ohne zuvor die Sozialbehörde befragt zu haben. Schwedische Freunde des Ehepaares unternahmen am 10. Dezember 1941 einen letzten Versuch. Bevor über das Gesuch entschieden worden war, wurde bekannt, dass die Eheleute Klepper sich in der Nacht zum 11. Dezember das Leben genommen hatten. Die Angelegenheit hatte sich also »von selbst erledigt«.
Auch hier erschien es der Kommission »verwunderlich, dass« und so weiter.
Die Listen schienen quälend lang. Was Zurückweisungen an den Grenzen betraf, so hatte die Sozialbehörde am 27. Oktober ein geheimes Rundschreiben an alle Grenzkontrollstellen des Landes verschickt. Darin wurde festgestellt, dass alle Inhaber deutscher oder österreichischer Pässe mit einem eingestempelten »J« Emigranten, mithin zurückzuschicken seien, »es sei denn, sie sind im Besitz von Aufenthaltsgenehmigungen oder gültigen Einreisevisa«. Die in dem Untersuchungsbericht aufgegriffenen Fälle waren aber nur diejenigen, die der Kommission bekanntgeworden oder ihr gemeldet worden waren. Wie viele mochte es sonst noch geben? Wie viele Menschen hatten 1945 ein Rechtsgefühl und einen Hass, die stark genug waren, die Behörde anzuzeigen, die es einmal abgelehnt hatte, das Leben ihrer Angehörigen zu retten?
Am 27. August 1939 kamen sechzehn jüdische Flüchtlinge nach Utö; einige von ihnen waren schon seit Jahren auf der Flucht, von Land zu Land, ohne dass eines bereit gewesen wäre, sie aufzunehmen: Sozialdemokraten, die vor den Deutschen geflohen waren, einige hatten direkte Auseinandersetzungen mit der Gestapo hinter sich. Die schwedischen Behörden verhörten sie rasch und schickten sie nach Riga zurück, wo die meisten ins Gefängnis wanderten. Dort blieben sie vorübergehend, wurden dann ausgewiesen. Die Gruppe zerstreute sich; einige verschwanden mit unbekanntem Ziel, einige versuchten wiederum, nach Schweden zu fliehen. Diesmal hatten sie sich in den Kohlebunkern einiger Schiffe versteckt. Die schwedischen Behörden verhafteten
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