Die Ausgelieferten
Flüchtlinge von der politischen Linken mit solcher Beharrlichkeit härter behandelt worden waren als Flüchtlinge aus dem anderen Lager, dass die Humanität offenbar immer ideologischen Gesetzen gefolgt war. Sein Erstaunen legte sich aber bald wieder, und er konnte klarer denken.
Ihm war, als hätte sich ihm die Welt der Bürokraten erschlossen, jetzt erheblich konkreter als früher – eine Welt, die durch Geheimhaltungsbestimmungen, verschwommene Vorstellungen von Sicherheitsrisiken und der nationalen Sicherheit geschützt war. In der Furcht vor den »unzuverlässigen Kommunisten« konnte nun die Welt der Beamten noch einmal aufblühen. Die Macht konnte ausgeübt, Aggressionen ausgelebt werden. Es konnte gerächt werden, Politiker und politische Beschlüsse konnten weggefegt werden, ideologische Motive konnten ausgenutzt und zugleich verborgen werden.
Schließlich war er so weit, dass er die einleitenden Beschreibungen der Fälle einfach überspringen und sich gleich den Schlusszeilen zuwenden konnte: Ergebnis, Datum der Ablehnung, Grund für die Ausweisung, Zeitpunkt der Deportation, Datum der Ermordung. »Der Sohn starb im Februar 1942; einige Monate später wurden die Eheleute C. von den deutschen Besatzungsbehörden nach Polen deportiert. Ihr weiteres Schicksal ist der Untersuchungskommission nicht bekannt.« »Über das weitere Schicksal der Eheleute lässt sich nichts Bestimmtes sagen. Soweit bekannt, soll jedoch die Mutter des Mannes E. später brieflich mitgeteilt haben, ihr Sohn sei ›plötzlich und unerwartet‹ gestorben.« »Den weiteren Angaben der Verlobten zufolge ist F. nach Verbüßung seiner Strafe nicht freigelassen worden, sondern in einem KZ gestorben.« Und dann die lakonischen Kommentare der Kommission: »bemerkenswert«, »muss als verwunderlich bezeichnet werden«.
Bemerkenswert waren aber nicht nur die spektakulären Ausweisungen oder Ablehnungen, die zumeist einen Tod in der Gaskammer zur Folge hatten, sondern auch die lange Reihe kleiner Irrtümer oder Provokationen, die Vielzahl kleiner »Informationen«, die den deutschen Behörden auf merkwürdigen Dienstwegen zugespielt wurden, ferner unverhältnismäßig lange Freiheitsentziehungen, Schikanen, Verschärfungen in der Haltung der Behörden gegenüber »Kommunisten« und den überall in schwedischen Lagern Internierten. Kleine Zettel in den Dossiers. »Jetzt ist es Zeit, die Urlaubsscheine einzuziehen!« »Achtung! Keine falsche Rücksichtnahme!« Hinzu kommen noch die verlängerten Internierungszeiten, der undurchdringliche Nebelvorhang vor allen Beschlüssen, die Unmöglichkeit, Einblick zu gewinnen, sich Kenntnis zu verschaffen.
Er hatte schon oft dieses merkwürdige Phänomen beobachtet: wie eine Bürokratie entsteht, sich konsolidiert, wächst und sich selbst schützt. Im kleinen hatte er es in Uppsala erlebt, in der Bürokratie der Studentenverbände, er hatte gesehen, wie Beamte sich eine eigene Welt erschaffen und sie nach außen hin abschirmen, wie eine Verwaltung sich selbst schützt und unverwundbar macht. Der Anfang der vierziger Jahre aber war das goldene Zeitalter der Bürokratie, die sich kaum Blößen gab.
Die Zahl der Fälle war groß, aber von Übergriffen gegen einen Nazisympathisanten ist nirgends etwas zu lesen. Es gab jedoch vermutlich keine Nazifreunde im damaligen Schweden.
Am Ende schienen komische und farcenhafte Züge das Gesamtbild zu prägen, was aber möglicherweise auch daran lag, dass er mit anderen Augen an die Dinge heranzugehen begann. Mitte der dreißiger Jahre war ein dreißigjähriger deutscher Syndikalist auf der Flucht vor den Nazis nach Schweden gekommen. Am 13. Januar 1938 sollten zwei andere deutsche Kommunisten über Dänemark an Deutschland ausgeliefert werden. Auf dem Stockholmer Hauptbahnhof kam es zu einem Zwischenfall. Einer der beiden Männer versuchte, Selbstmord zu begehen, und der Dreißigjährige, der daneben stand und zusah, konnte nicht schweigen. Den Aussagen der Polizisten zufolge soll er über sie gesagt haben: »Das sind keine Menschen, das sind Banditen!« und: »Das soll eine Demokratie sein!« Er wurde festgenommen und auf Beschluss der Sozialbehörde in das Lager von Långmora gebracht. Die Sozialbehörde vertrat damals nämlich die Ansicht, dass »gegen Anarcho-Syndikalisten, zu denen sich auch C. bekennt, grundsätzlich Sicherheitsmaßnahmen ergriffen werden« sollten.
Man internierte nicht alle Flüchtlinge; viele allerdings wurden auf Grund bloßer Gerüchte
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