Die Ausgelieferten
sie und schickten sie wieder nach Lettland zurück. Damals waren die baltischen Staaten noch frei; in Lettland herrschte die faschistische Ulmanis-Diktatur. Zwei Letten, ein Arzt und ein Dozent, haben der Kommission folgendes mitgeteilt: »Den im Jahre 1939 in Lettland geltenden gesetzlichen Bestimmungen zufolge konnte die Polizei auf administrativem Wege Personen, die sich illegal im Lande aufhielten, bis zu sechs Monaten in Gewahrsam halten. Dagegen gab es zu jener Zeit keine Konzentrationslager im Lande. F. und G. hätten nach ihrer Rückkehr nach Lettland vermutlich mit einem Gefängnisaufenthalt von nicht allzu langer Dauer zu rechnen gehabt, und danach wären sie ausgewiesen worden. So ist mit jüdischen und sozialistischen Emigranten nämlich oft verfahren worden.«
Grundsätzlich wurde offenbar auch in Schweden so verfahren. Juden und Kommunisten hatten eine harte und sachliche Behandlung zu gewärtigen, die von jeder gefühlsmäßigen Anteilnahme frei war. Juden und Kommunisten wurden entweder abgewiesen, ausgewiesen, oder, wenn eine Aufenthaltsgenehmigung erteilt worden war, unter Kontrolle gehalten – die Kommunisten in besonderen Lagern. Es gab in jeder Beziehung Ausnahmen, und die Haltung ihnen gegenüber änderte sich ganz allmählich, nachdem das Kriegsglück sich gewendet hatte. Gegen Ende des Krieges, das lässt sich sagen, war die Haltung der schwedischen Beamten rein sachlich und objektiv.
Manche Fälle schienen auf Grund der Gesetze entschieden zu werden, manche aber auch nach persönlichem Gutdünken oder nach Laune der beteiligten Beamten. Dies besonders in Fällen, die man als Zweifelsfälle bezeichnen kann. Nach der Besetzung Dänemarks durch die Deutschen kamen zwei deutsche Flüchtlingsfamilien von Dänemark nach Hälsingborg. Es waren insgesamt sechs Personen, davon zwei Kinder; eines war drei Jahre alt. Einer der beiden Männer, ein deutscher Kommunist, war aus Deutschland geflohen und hatte danach mehrere Jahre in einer dänischen Werft gearbeitet. Als die Deutschen einmarschierten, suchten sie sofort nach ihm, aber er war mit seiner Familie untergetaucht. Der zweite Mann, ein promovierter Akademiker, war ebenfalls Kommunist. Er war vor der Gestapo geflohen und wusste, dass er sich jetzt in Gefahr befand. Alle sechs waren in einem kleinen Motorboot über den Sund geflohen. Die Polizei in Hälsingborg, die den Fall zu behandeln hatte, äußerte der Sozialbehörde gegenüber sehr sachlich und entschieden, dass »die Ausländer für den Fall, dass sie nicht in allernächster Zeit nach Dänemark zurückgebracht würden, der schwedischen Allgemeinheit auf unabsehbare Zeit zur Last fallen und vielleicht sogar ein Sicherheitsrisiko für den Staat darstellen« würden. Die Männer waren einundvierzig beziehungsweise achtundvierzig Jahre alt. Am 12. Juli 1940 teilte die Polizeibehörde von Hälsingborg den beiden Familien den Ausweisungsbeschluss mit. Sie wurden noch am selben Abend mit der Fähre nach Helsingör gebracht und den deutschen Behörden übergeben. Es ist hinterher versucht worden, Näheres über ihr Schicksal zu erfahren, aber vergebens. Von jener Stunde an sind sie verschollen.
Während der Wochen, in denen er die Dossiers las, wurde er oft von einem hilflosen Staunen ergriffen; ihm wurde schwindlig, als befände er sich plötzlich in einer Landschaft, die nicht wirklich sein konnte, nicht wirklich sein durfte. Was er hier an den Lesetischen der Carolina Rediviva in Uppsala im Herbst 1966 las, waren Märchen, trockene, korrekte Märchen aus einer Traumwelt, jedenfalls nicht aus einer schwedischen Welt. Was er las, war das offizielle, gedruckte Material, der öffentliche Untersuchungsbericht des Staates. Aber er wusste auch, dass dieses Material nicht vollständig war; einiges hatte man zu den Geheimakten gelegt. Dieses Material war so schrecklich, dass man es nicht einsehen durfte. In den Pausen stand er oft auf der Bibliothekstreppe und sah über Uppsala hinaus. Damals, dachte er, hat es verflucht nochmal keine Proteststürme gegeben, wie viele auch umgebracht wurden. Einige Tage lang schien diese Erkenntnis ein neues Licht auf die Frage der Auslieferung der Balten zu werfen: als würde die Gleichgültigkeit eines Volks, eines Teils der Öffentlichkeit oder der Presse diesen administrativen Morden gegenüber die Meinung über die Auslieferung der Balten auf eine völlig neue Grundlage stellen. Aber so war es nicht, obgleich er noch lange darüber verwundert war, dass
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