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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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errichteten Sperren noch weiter verstärkt worden. Dem Verteidigungsstab wird Bericht erstattet; der Bericht stimmt jedoch nicht ganz mit den Arbeitsbüchern überein, jedenfalls, was die chronologische Folge betrifft. »Am 1. Juli wurde sofort mit der Verstärkung des Zauns durch gekreuzte Drähte begonnen. Die Eingangstore waren, da keiner das Lager betreten oder verlassen durfte, mit Stacheldraht gesichert. Vom 20. August an setzte eine vollständige Erneuerung (karoförmig) des Zauns ein, die am 26. August abgeschlossen war.«
    Nur unvollständig und mit kurzen Bemerkungen wird der psychische Zustand der Insassen erwähnt. »Sprechen oft über die Zustände in Russland. Haben Angst um ihre Angehörigen, Unbehagen, Ungewissheit.« »Einige wollen in englische Gefangenschaft.«
    Gegen Mitte des Sommers unternahm die abessinische Botschaft einen Vorstoß, um für die äthiopische Armee baltische Offiziere und Soldaten anzuwerben. Man brauche dreihundert Offiziere; mehrere Wochen lang wurde dieser Vorschlag von den Internierten eingehend diskutiert.
    Sie bekamen jedoch nie eine Möglichkeit, selbst zu entscheiden. Auf Anweisung aus Stockholm hin wurden alle Diskussionen abgeblasen. Kurze Notiz: »Abessinien-Schreiben ablehnen. Wir behalten sie selbst.«
    Porträt eines Pilzsammlers. Name: Vincas Lengvelis. Litauischer Offizier in deutschen Diensten, in Havdhem interniert.
    In einem Brief an den schwedischen Lagerkommandanten führt er schwere Klage gegen einen namentlich benannten deutschen Soldaten. »Am 10. September 1945 hat der baltische Teil des Lagers – mit Ihrer Genehmigung – in der Nähe des Lagers Pilze gesammelt, zusammen mit einigen Deutschen. Ich wurde als ›Dienstältester‹ zum Verantwortlichen gemacht. Der Gefreite Otto Neujoks sammelte jedoch keine Pilze; er hatte sich schon zu Beginn des Ausflugs vorgenommen, in einem nahegelegenen Garten Äpfel zu pflücken. Neujoks ist österreichischer Deserteur und im ›Sonderlager‹ untergebracht. Ich hatte das Apfelpflücken persönlich verboten. Neujoks gehorchte nicht und kroch, obwohl er mich sah, durch einen Zaun in den Garten, wo er Äpfel sowohl vom Baum pflückte als auch von der Erde auflas. Ich meldete die Tat sofort dem nächsten schwedischen Posten, später auch dem Kompaniechef.
    Nach meiner Rückkehr ins Lager, als ich neben meinem Zelt saß, kam plötzlich der Gefreite Ginther, ein Freund des N., auf mich zu. Neben mir saßen mehrere Offiziere und einige Gefreite. Der Gefreite Ginther schrie mich an – mit lauter Stimme –, ich sei ein Bandit, und er fügte mit drohend erhobener Faust hinzu, er werde sich nach der Rückkehr nach Deutschland schon zu rächen wissen. Ich möchte betonen, dass ich deutsche Offiziersuniform trug!
    Ich fühle mich beleidigt, da ich von einem Soldaten ›Bandit‹ genannt worden bin, und dies in Gegenwart anderer. Ich bitte Sie, Herr Oberstleutnant, den Gefreiten Ginther streng bestrafen zu wollen.«
    Am 1. September wurde Ginther ein Verweis erteilt.
    Über Vincas Lengvelis gibt es ausführliche biographische Angaben, die vom »Höchsten Komitee für die Befreiung Litauens« mit Sitz in Westdeutschland stammen. Sie wurden nach seiner Befreiung zusammengestellt; Datum: Reutlingen, 1. Februar 1954. Er war einer jener 146, die im Januar 1946 ausgeliefert wurden.
    Lengvelis wurde 1902 in Litauen geboren. Zwei seiner Schwestern wurden, nach eigener Aussage, nach Osten deportiert. Er bekleidet den Rang eines Leutnants, mitunter wird er als »Polizist« bezeichnet. Zwischen 1934 und 1941 diente er teils in litauischen Regimentern, teils als Grenzpolizist an der deutschen und an der polnischen Grenze. Im Januar 1941 verließ er Litauen und ging nach Deutschland, wo er schon im August 1941 deutscher Staatsbürger wurde.
    Der Hintergrund ist bekannt: am 22. März 1939 hatten die Deutschen Memel besetzt und die litauische Regierung zu einem sowjetfreundlichen Kurs gezwungen. Gegen Ende der dreißiger Jahre war Litauen eine halbfaschistische Diktatur; dennoch wurden im Juni 1940 die Verhandlungen eingeleitet, die zu dem unfreiwilligen Anschluss an die Sowjetunion führen sollten. Im August desselben Jahrs wurde Litauen eine »Sowjetrepublik«. Im Juni 1941 begann der deutsche Überfall auf die Sowjetunion, und Litauen wurde schnell von deutschen Truppen besetzt.
    Im August 1943 kehrte Vincas Lengvelis nach Litauen zurück. Während der Besetzung der baltischen Staaten war dort eine antideutsche und nationalistische

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