Die Ausgelieferten
kam heraus. Sie blickte den Schweden an und sagte nur ein einziges Wort: »Auto.« Ihr Gesichtsausdruck war schwer zu beschreiben. Der Sergeant erhob sich sofort, öffnete die Außentür und winkte der Ordonnanz. Der Wagen, der sie nach Hemse bringen sollte, fuhr sofort vor. Sie hatte keinen weiten Weg vor sich. Sie stand auf der Treppe und hielt mit beiden Händen ihre Tasche fest. Der Sergeant öffnete den Wagenschlag, sie stieg ein und zog die Tür dann selbst zu. Unterdessen hatte die Frau kein Wort gesprochen. Der Sergeant nahm Haltung an, salutierte, dann fuhr der Wagen an und verschwand. Zeit: 16 Uhr.
Der Sergeant ging anschließend zu dem Mann zurück, der zwar etwas grau im Gesicht geworden war, im übrigen aber wie immer aussah. Der Schwede fragte ihn, ob er eine Wiederholung des Besuchs wünsche, aber der Mann schüttelte schnell den Kopf. Danach ging er hinaus und stellte sich an den Fuß der Treppe. Die Luft war angenehm kühl, es hatte tagsüber geregnet, der Himmel war noch bedeckt, und man konnte spüren, dass der Herbst bald kommen würde. Der Mann stand neben der Treppe und blickte zu den Baracken und den Zelten hin.
Als der Sergeant nach einer halben Stunde zurückkam, stand der Mann immer noch da. Das war nicht erlaubt, da der Mann nur für die Dauer des Besuchs seiner Frau Erlaubnis hatte, sich außerhalb des Lagers aufzuhalten. Der Sergeant ging also zu ihm hin und sagte in deutscher Sprache:
– Sie müssen jetzt wieder in Ihre Unterkunft zurück.
Der Mann stand stumm da, er schien nicht gehört zu haben. Er blickte noch immer unentwegt zu den Zelten hin, den Baracken, dem Stacheldraht und dem Lagereingang. Die Dämmerung brach schon herein, es fiel ein leichter Regen, der Sergeant sah ihn unentschlossen an und wusste nicht, was er tun sollte. Dann begann der Mann irgend etwas zu murmeln, die Worte waren aber lettisch und unmöglich zu verstehen. »Er sah ziemlich schlecht aus.« Plötzlich setzte er sich in Bewegung und ging ins Lager zurück, ohne sich umzusehen.
Der lettische Leutnant A.K., dessen Ehefrau auf Gotland wohnte, bleibt in der Folgezeit völlig unsichtbar. Er erregt nie Aufmerksamkeit, niemand erinnert sich an ihn. Er scheint völlig in der Versenkung verschwunden zu sein. Er gehörte zu jenen, die ausgeliefert wurden.
Das berichtete Ereignis kann man als eins von drei romantischen Episoden während der Internierungszeit in Schweden einordnen. Die beiden anderen spielten sich im November beziehungsweise im Januar ab. Da sie so gering an Zahl sind, hat dieses Geschehen in der Darstellung seinen gegebenen Platz.
Sie wunderten sich immer wieder über Gailitis: er war Oberstleutnant, er muss gewohnt gewesen sein zu befehlen, man hatte ihn zum Vertrauensmann und Führer der Balten im Lager gemacht. Er machte aber immer den Eindruck, als wollte er sich allem entziehen, als befände er sich ständig woanders, oder als wagte er nicht, seiner Autorität wirklich zu vertrauen, sie auszuüben.
Es gibt keine Bilder von ihm. Das Auffallendste waren seine Zähne. Er hatte ein auffälliges Goldgebiss; seine Zähne mussten irgendwann einmal ausgeschlagen und durch Goldzähne ersetzt worden sein. Wenn er, was selten genug vorkam, lächelte oder lachte, war das Ergebnis grotesk: eine schimmernde Reihe von Goldzähnen.
Es gab mehrere im Lager, die seine Vorgeschichte kannten, was nicht sehr bemerkenswert war, da viele ihn schon von Lettland her kannten. An einem Tag im August erzählte ein deutscher Offizier Dr. Eichfuss die Geschichte von Oberstleutnant Gailitis. Eichfuss hörte sehr aufmerksam zu, stellte einige Fragen, überlegte ein paar Tage und ging dann zum Angriff über.
Die Geschichte Gailitis’ ist leicht erzählt. Er war Jurist und ehemaliger Chef der lettischen Militärgerichtsbarkeit. Als die Russen 1940 ins Land kamen, tauchte er unter, um bei der Besetzung durch die Deutschen wieder in der Öffentlichkeit zu erscheinen. Er schloss sich den Deutschen an; für einen deutschfreundlichen lettischen Juristen und Richter gab es damals viel Arbeit.
Er wird vor allem in einer Episode sichtbar. Im Herbst 1944, als die Deutschen zurückgedrängt, die Fronten immer mehr aufgerollt wurden, lösten sich die lettischen Verbände in deutschen Diensten immer mehr auf. Einige verschwanden in den Wäldern, und im Spätherbst hatte es den Anschein, als würde sich dort eine eigene lettische Armee formieren, die ohne Bindung an die Deutschen und ohne Kampfauftrag auf den Frieden wartete. Sie
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