Die Ausgelieferten
bestand zur Hälfte aus Deserteuren, die möglicherweise den Grundstock einer nationalen Befreiungsarmee bilden wollten. Vielen gelang es, sich bis zum nächsten Sommer verborgen zu halten, sie nahmen zu lettischen Widerständlern Kontakt auf, bildeten Partisanengruppen und nannten sich selbst »Partisanen«.
Die deutsche Front stabilisierte sich aber wieder, und es entstand jener große Kessel, den man »Festung Kurland« nennen sollte. Es war Zeit für Säuberungen. Die Jagd auf die lettischen Partisanenverbände begann. Es wurden zwei Kompanien gefangengenommen und verurteilt. In diesem Augenblick taucht Karlis Gailitis in der Geschichte auf.
Eines Morgens traten die gefangenen lettischen Kompanien auf dem Hof des KZs Stutthof zum Appell an. Viele Augen beobachteten sie. Im Lauf des Tages wurden sie einzeln verhört. Die Verhöre waren kurz und sehr aufschlussreich. Richter war Karlis Gailitis, der seine Landsleute auf der Stelle dazu verurteilte, im KZ Stutthof zu bleiben.
Am nächsten Tag wurden die beiden Kompanien zusammen mit einer großen Zahl gefangener Juden und Kommunisten in die Baracken gebracht. Über ihr weiteres Schicksal weiß man nicht viel. Die Abgangsquoten in Stutthof werden als außergewöhnlich hoch bezeichnet; in den Baracken wüteten Dysenterie-Epidemien, das Essen war – wenn es überhaupt welches gab – schlecht, außerdem lichtete man die Reihen der Insassen durch »Säuberungen«. Als die Russen später näher kamen, brachte man die Überlebenden nach Westen. Wer nicht mehr gehen konnte, wurde niedergeschossen, ein Wachtrupp, der dem Zug folgte, sorgte dafür, dass niemand lebend zurückblieb. So waren die Marschverluste sehr groß. Wer von den von Gailitis verurteilten Soldaten noch am Leben ist, lässt sich nicht mehr feststellen.
Wie dem auch sei: Gailitis war kein Armeeoffizier. Er war Jurist, ein gebildeter Mann. Er war es nicht gewohnt, andere Menschen zu führen. Seine im Lager beobachtete Entschlusslosigkeit und mangelnde Willenskraft kann man leicht erklären.
Eines Abends Ende August klagte Dr. Elmars Eichfuss-Atvars Gailitis plötzlich und überraschend an, ein Nazi zu sein, ein Feind des Volks und ein Lakai der Deutschen. Diese Eröffnung überrumpelte alle, und nachdem Eichfuss geendet hatte, entstand ein langes und peinliches Schweigen.
Keiner der Anwesenden würde diesen Abend vergessen. Sie saßen wie gewöhnlich vor ihren Zelten, und plötzlich stand er vor ihnen, barhäuptig wie immer, mit seinem kleinen Ziegenbart unter dem herzförmigen Gesicht, er stand da und klagte Gailitis an, ein Nazi, Mitläufer und unwürdiger Vertrauensmann zu sein.
Darauf folgte eine Diskussion. Nach einer halben Stunde wurde sie so laut, dass die schwedische Wache eingriff. Aber da stand Eichfuss bereits abseits am Lagereingang, er lächelte breit und herzlich und betrachtete die Verwirrung, die er hervorgerufen hatte.
Die Schweden erfuhren nicht, worüber man diskutiert hatte. Im Tagebuch steht nur: »Krach im Baltenlager. Neues Zelt aufgerichtet.«
Es blieb alles ruhig, Gailitis wurde nicht abgesetzt, die Anklagen wurden nicht zurückgenommen, aber auch nicht widerlegt, die Gruppe war jedoch endgültig in zwei Parteien gespalten. Zu der einen gehörten Gailitis und alle lettischen Offiziere, zur anderen Eichfuss, alle Esten und die Hälfte der Litauer, ebenso einige der jüngeren lettischen Soldaten. Die Spaltung war ein Faktum, die idyllische Zeit vorbei.
Die Beschreibung des Kampfs um die Führung der Balten ist ein Teil der Beschreibung, wie eine absurde und unmögliche Situation geschaffen wird oder sich selbst schafft. Der Kampf beginnt auf Gotland, er endet dort aber nicht.
Am 22. September wurden alle internierten Offiziere darüber informiert, dass die Verlegung aufs Festland bevorstand. Als Grund gab man an, dass die Unterbringungsmöglichkeiten dort besser seien.
Bei dieser Nachricht wurde Kaffee serviert. Niemand protestierte gegen die Verlegung.
9
B eschreibung eines Lagerfestes. Es begann um 18 Uhr und endete offiziell um 00.30 Uhr. Es fand in dem eingezäunten Freizeitgelände des Internierungslagers in Havdhem statt. Veranstalter und Teilnehmer waren die Angehörigen der zweiten deutschen Kompanie.
Als die Balten den Lärm vom Festplatz hörten, versammelten sie sich an dem Tor, das zu ihrem Teil des Lagers führte und unterhielten sich eine Weile. Um 23 Uhr riefen sie den schwedischen Wachposten herbei, der gerade patrouillierte. Sie erklärten, der Krach
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