Die Ausgelieferten
noch eine kleine Gefahr. Ich selbst kann nicht viel tun.
Kalnins ging von einem Politiker zum andern, erfuhr von vielen Gerüchten, einige betrafen das Handelsabkommen mit den Russen und die Bedeutung guter Beziehungen zur Sowjetunion, aber gesicherte Fakten waren selten. Während einiger Wochen sah er im Auftrag Möllers die Papiere der Zivilbalten durch und gab dann eine Stellungnahme ab: nichts Sensationelles dabei, das wussten die meisten schon vorher. Einige der Flüchtlinge seien prächtige Faschisten, die allerhand auf dem Kerbholz hätten, ein paar seien Konformisten, die weniger belastet seien, und die meisten seien unschuldig, sie seien nur aus Angst vor den Russen geflohen.
Ihnen sollte nie eine Gefahr drohen: sie durften bleiben.
Zu Kalnins späteren Gesprächspartnern gehörte auch Vougt, aber diese Unterredung brachte Kalnins überhaupt nicht weiter. Vougt gab zu, dass es einen Beschluss über die Auslieferung der Militärflüchtlinge gebe, aber er wollte keinen Kommentar dazu geben und auch nichts unternehmen. »Für mich ist die Sache abgeschlossen. Wir bewachen sie nur noch, bis es soweit ist.« Er vermied es, auf Einzelheiten einzugehen, wollte sich nicht festlegen, deutete aber vorsichtig an, dass die Frage noch weiter erörtert werde. Vielleicht werde man den Beschluss noch zu Fall bringen können.
– Sprechen Sie mit Undén, der weiß Bescheid.
Undén saß an seinem Schreibtisch und zeigte sich völlig unempfänglich für irgendwelche Einwände. Es handelt sich um einen Regierungsbeschluss, sagte er, und demnach sollen die baltischen Militärflüchtlinge ausgeliefert werden. Also werden sie auch ausgeliefert.
Kalnins fragte daraufhin, ob Undén sich darüber klar sei, was das für die Betroffenen bedeute. Undén erwiderte, er habe mit der russischen Gesandtin über diese Frage gesprochen, und diese habe versichert, dass man die Balten korrekt und gut behandeln werde. »Es gibt keinen Anlass, den Russen in dieser Hinsicht zu misstrauen.«
Anschließend unterhielten sie sich noch längere Zeit über die völkerrechtlichen Aspekte der Auslieferung sowie über Theorie und Praxis in der russischen Rechtsprechung. Ihr Gespräch brachte überhaupt kein Ergebnis.
Inzwischen schrieb man Mitte September.
Richard Lindström, mit dem Kalnins seit den dreißiger Jahren befreundet war, riet ihm, sich an Zetterberg zu wenden. Er ging zu Zetterberg. Dieser sagte, dass er zwar Mitglied der Regierung sei, aber nicht besonders einflussreich. Danach suchte Kalnins Quensel auf, der seiner Kritik am Auslieferungsbeschluss zwar zustimmte, aber zugleich bekannte, er habe in dieser Frage keine Möglichkeit, auf die Regierung einzuwirken. Quensel bat ihn, ein Memorandum anzufertigen; Kalnins ging nach Hause, schrieb das Memorandum, reichte es im Justizministerium ein und begann zu warten. Man hatte ihm gesagt, dass die Russen an einem schnellen Abtransport der Internierten nicht sonderlich interessiert zu sein schienen. Vielleicht werde alles im Sande verlaufen.
Am 14. November erhielt der Verteidigungsstab endlich – nachdem er einen Sommer und einen Herbst lang den Russen in den Ohren gelegen hatte – Bescheid: dass ein Truppentransporter Murmansk verlassen habe und auf dem Weg nach Trelleborg sei. Die schwedischen Militärs atmeten erleichtert auf. Endlich hatten die Russen den in Schweden Internierten vor den deutschen Soldaten in Norwegen Vorrang gegeben. Nun konnte der Stab die Auflösung der Lager in Angriff nehmen.
Der Auszug der Legionäre konnte jetzt vorbereitet werden.
Am selben Tag, dem 14. November, wurde die Angelegenheit in einer Staatsratssitzung erörtert, nun zum erstenmal in einem rein sozialdemokratischen Kabinett. Die Frage wurde rasch erledigt, das russische Schiff war ja bereits unterwegs, und nun konnten die teuren und lästigen Lager endlich aufgelöst werden. Eine Diskussion über die Auslieferung selbst kam nicht zustande.
Am selben Tag noch suchte ein Beamter des Außenministeriums den ehemaligen litauischen Botschafter Ignas Scheynius auf und teilte ihm mit, dass es einen Auslieferungsbeschluss gebe, dass ein russisches Schiff unterwegs sei, um die Internierten abzuholen, und dass diese Informationen auf diskrete Weise weitergegeben werden sollten. Scheynius, der wie die meisten baltischen Exilpolitiker ein Antikommunist jenes unerschütterlichen Schlages war, den man nur unter Flüchtlingen aus der kommunistischen Welt findet und der in den letzten Jahren mehrere
Weitere Kostenlose Bücher