Die Ausgelieferten
hatte den ganzen Morgen gearbeitet, um die Waggons von Glas, Gardinenstangen, scharfen Gegenständen und anderem zu befreien, was bei Selbstmordversuchen gebraucht werden könnte.
Um 21 Uhr an jedem Abend traten die Balten, die noch gehen konnten oder wollten, auf den Hof vor den Baracken hinaus und sangen »Ein’ feste Burg ist unser Gott« und die lettische Nationalhymne.
Montag, der 26. Die Nachricht, die Auslieferung sei aufgeschoben worden, wurde mit Erleichterung aufgenommen. Diese Stimmung hielt jedoch nur wenige Stunden an. Am selben Abend, nachdem man die Scheinwerfer eingeschaltet hatte und das Brummen des Akkumulators wieder zu hören war, kamen ein paar Deutsche aus ihren Baracken heraus; sie trugen zwei Pfähle und ein Spruchband. Sie befestigten die Pfähle und das Spruchband und gingen wieder in ihre Unterkünfte zurück.
Der Text war im Scheinwerferlicht leicht zu lesen. Dort stand in mangelhaftem Schwedisch: »Seid menschlich und sterbt uns!« Das Spruchband hing die ganze Nacht dort. Am Tag danach betraten einige Wachposten das Lager und nahmen das Spruchband ab. Keiner der Deutschen machte einen Versuch, sie daran zu hindern. Sie standen an den Fenstern und sahen stumm und passiv zu.
Donnerstag, Freitag, Sonnabend, Sonntag. Montag. Dienstag. Ein Tag verging wie der andere. Die Bewachung war nun sehr streng. Außerhalb des deutschen und baltischen Lagers mit ihren sechshundert Insassen hatte man über tausend Wachsoldaten postiert.
Alle Beschlüsse kamen aus der baltischen Offiziersbaracke. Alle Mitteilungen, alle Befehle, alle Analysen, alle Stellungnahmen. Die Offiziere befanden sich ja auch in einer idealen Position: sie hatten die Möglichkeit zu überlegen, zu beraten, sie hatten Zugang zu allen Informationen von draußen, besaßen einen Überblick. Sie hatten Eichfuss. Pläne, die baltischen Vertrauensleute oder Eichfuss zu isolieren, hatte die schwedische Lagerleitung nie ins Auge gefasst. Man wollte nicht das Risiko eingehen, noch schlimmere Unruhen zu provozieren.
Die erste Krise sollte recht bald eintreten.
Spät am Abend des 27. November machte Lagerkommissar Sigurd Strand noch einen Rundgang durch die baltische Offiziersbaracke. Sie lag hundertfünfzig Meter von den Mannschaftsbaracken entfernt, sie war weiß gestrichen und dreistöckig; die Zahl der Räume erlaubte den baltischen Offizieren, zu dritt oder viert in einem Zimmer zu liegen. Im Flur des Erdgeschosses kam Strand ein Mann entgegen und bat ihn um ein Gespräch. Er hieß Oscars Lapa, lettischer Offizier.
Es war etwa 23 Uhr, die meisten schliefen schon. Strand war müde, konnte dem Letten aber ein Gespräch nicht verweigern.
Lapa nahm ihn mit in sein Zimmer, das sich im zweiten Stock befand und ursprünglich eine Küche gewesen war: jetzt waren er und ein anderer Offizier dort untergebracht, den man aber am Tag zuvor mit Tbc-Verdacht ins Krankenhaus gebracht hatte. Lapa war also allein im Zimmer.
Sie setzten sich beide aufs Bett, das mitten im Zimmer stand. An der Decke baumelte eine gewöhnliche Glühlampe ohne Schirm, das Licht war hart und grell. Lapa begann, planlos und etwas verwirrt von einem Brief zu erzählen, den er am selben Tag erhalten hatte. Er sei aus Westdeutschland gekommen, von seiner Frau, und darin habe gestanden, dass sie und ihre kleine Tochter sich in Sicherheit befänden. Strand gratulierte, aber Lapa schien der frohen Botschaft seltsam gleichgültig gegenüberzustehen. Vor dem Fenster hingen keine Gardinen: der Wald war noch dunkler als der Himmel. Lapa las einige Ausschnitte aus dem Brief in schwedischer Übersetzung vor, machte dabei aber keinen glücklichen Eindruck.
Dann begann er, über Russland zu sprechen. Er erzählte, was die Internierten während der letzten Tage aus der schwedischen Presse erfahren hatten: dass sie als Kriegsverbrecher bestraft werden sollten, dass die Russen in Rundfunksendungen gelobt hätten, sie zu bestrafen, dass man sie auf das Sklavenschiff bringen und nach Sibirien schicken wollte, dass es keine Hoffnung für sie gebe. Er versuchte, Strand einen fragmentarischen Lebenslauf wiederzugeben, schien aber die Passagen sorgfältig auszuwählen. Er deutete mehrmals an, dass er Dinge getan habe, von denen die Russen nicht erbaut wären, dass er einer der ersten sein würde, über den die Russen herfallen. »Er hatte irgendwas auf dem Kerbholz, wurde vom NKWD gesucht, er wollte aber nicht sagen, worum es sich handelte. Da muss aber irgend etwas gewesen sein, er sprach
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