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Die Ausgelieferten

Die Ausgelieferten

Titel: Die Ausgelieferten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Per Olov Enquist
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geschlossen hatte, begann die Diskussion.
    Gailitis ergriff sofort das Wort. Er stellte fest, dass der Hungerstreik ein glatter Misserfolg sei und kaum etwas bewirken würde. Sie hätten nun schon sieben Tage die Nahrungsaufnahme verweigert, und nach den bisherigen Erfahrungen werde man noch zehn Tage durchhalten können, ohne den Körper zu sehr zu gefährden. Leider hätten sie aber keine zehn Tage mehr Zeit. Die »Cuban« liege bereits im Hafen von Trelleborg, es gehe also um Stunden, bestenfalls um wenige Tage. Lapa habe den richtigen Weg gewiesen. Man brauche zwar nicht unbedingt so weit zu gehen, aber eine Reihe von Selbstverstümmelungen würden in dieser für die öffentliche Meinung so labilen Lage eine bessere Wirkung versprechen.
    Die Debatte kam jetzt in Gang und dauerte etwa eine Viertelstunde. Eichfuss schwieg und begnügte sich zunächst damit, die Redner aufmerksam zu beobachten. Dann ergriff er selbst das Wort. Er sagte, es sei Aufgabe des Komitees, Ruhe und Ordnung aufrechtzuerhalten, Selbstmorde zu verhindern und den gegebenen Parolen unbedingt Folge zu leisten. Der Hungerstreik habe eine gute Wirkung gehabt, sie hätten eine gute Presse, es gebe noch Hoffnung für sie. Vor allem gebe es nicht den geringsten Grund, in dieser Lage die Kräfte der Balten durch sinnlose und auf alten Aggressionen beruhende Kontroversen zu zersplittern.
    Er sprach mit ruhiger, überzeugender Stimme, fixierte die Anwesenden, einen nach dem anderen; nachdem er geendet hatte, entstand ein kurzes Schweigen. Einige Mitglieder des Streikkomitees, die direkt Verantwortlichen also, schienen noch zu zögern, sie brachten einige gemurmelte Einwände vor. Es war offenkundig, dass Eichfuss ausgezeichnet, aber nicht überzeugend genug gesprochen hatte.
    Als Eichfuss die Lage erfasste, stand er auf und bat das ihm am nächsten sitzende Mitglied des Streikkomitees vorzutreten. Eichfuss zeigte mit der Hand auf diesen Mann und fragte:
    – Bist du für uns oder gegen uns?
    Der Mann zögerte ein wenig und sagte dann:
    – Ich bin für euch.
    Nur einer der danach noch Aufgerufenen schien widerborstig zu sein. Er starrte Eichfuss schweigend an, mit widerstrebendem, zusammengekniffenem Gesicht, blickte über die anderen hin und sagte schließlich:
    – Also gut, ich bin dabei.
    Er setzte sich wieder hin, während Eichfuss stehenblieb. Eichfuss schien völlig unberührt, er lächelte schwach. Schließlich sagte er:
    – Dann sind wir uns also einig. Wir machen weiter.
    Die Besprechung konnte geschlossen werden.
    Einer der Teilnehmer war ein etwa fünfunddreißigjähriger lettischer Offizier. Er hatte Eichfuss nie gemocht, was zum Teil daran lag, dass Eichfuss Offiziere und Soldaten ständig gegeneinander ausspielte und häufig für die Soldaten Partei ergriff: das hielt der Offizier für Opportunismus. Er fühlte sich Eichfuss aber doch auf merkwürdige Weise unterlegen, besonders während der Streikwochen, weil Eichfuss ein ausgezeichnetes Deutsch sprach und guten Kontakt zu den Schweden hatte; außerdem argwöhnte er, dass Eichfuss hinter seinem Lächeln wichtige Erkenntnisse und Informationen verbarg. Sie hatten jedoch alle gemeint, dass Eichfuss der geeignete Mann sei, um den Hungerstreik zu leiten, weil er so völlig anders war als sie selbst.
    Nach Lapas Tod jedoch hatten sich einige Offiziere mit Gailitis an der Spitze darauf geeinigt, Eichfuss zu entmachten. Nachdem die Besprechung in der ehemaligen Kantine einberufen worden war, hatte dieser Offizier als erster der Gruppe den Raum betreten, aber Eichfuss war vor ihm da gewesen. Eichfuss hatte auf einem Stuhl gesessen und zum Fenster hinausgestarrt; es war nicht zu übersehen gewesen, dass er geweint hatte. Eichfuss hatte sich umgewandt und ihn angesehen, aber keinen Versuch gemacht, seine Tränen zu verbergen. Dann hatte er plötzlich aufgelacht und mit einem Auge vielsagend gezwinkert.
    Der Offizier findet keine Erklärung für das Auftreten von Eichfuss, aber er selbst hatte bei der Zusammenkunft seine Meinung geändert und Eichfuss unterstützt. Dieser hatte später am Abend einen gefassten und frohen Eindruck gemacht und erklärt, es würde alles gutgehen, sie würden Erfolg haben.
    Diese Episode ist dem lettischen Offizier aus der Zeit des Hungerstreiks am deutlichsten in Erinnerung geblieben, und er bezeichnet sie als bedeutungslos. Eichfuss, so erklärt er später, sei kein Arzt gewesen, niemand habe gewusst, wer er in Wahrheit gewesen sei, er habe ständig gelogen, niemand

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