Die Auslese: Nur die Besten überleben - Roman (German Edition)
Ihre Schüler größere Chancen haben zu bestehen, wenn sie gleichzeitig mit den anderen eintreffen.«
»Und was ist, wenn wir nicht wollen?«
Unsere Köpfe fliegen herum, und wir alle starren Zandri an. Ihr Gesicht hat beinahe die gleiche rote Farbe wie ihre Tunika. Zuerst denke ich, sie ist verlegen. Doch dann hebt sie ihr Kinn. Das Blitzen in ihren blauen Augen verrät deutlich, wie zornig sie ist. Die Tatsache, dass vier von uns für die Auslese ausgewählt worden sind, ist schon erstaunlich genug, aber dass Zandri dazugehört, ist noch weitaus verblüffender. Nicht dass Zandri nicht clever wäre. Das ist sie durchaus, auch wenn die meisten von uns sie eher als Künstlerin denn als Wissenschaftlerin sehen. Naturwissenschaften interessieren Zandri nur, wenn sie ihr dabei helfen, neue Farben zu kreieren. Niemals hat sie anklingen lassen, dass sie ihre Ausbildung gerne weiter fortsetzen würde. Trotzdem überrascht mich ihre Frage. Warum sollte sie auf die Ehre verzichten, die es bedeutet, für die Auslese ausgewählt zu werden?
Der junge Mann aus Tosu-Stadt lächelt, und ich erschauere. Da ist keinerlei Wärme in seinem Gesicht zu erkennen. »Ihr habt keine Wahl. Das Gesetz schreibt vor, dass jeder ausgewählte Bürger des Vereinigten Commonwealth zum vereinbarten Termin bei der Prüfung erscheinen muss. Ein Verstoß dagegen würde entsprechend geahndet werden.«
»Und wie sieht diese Ahndung aus?« Zandri schaut Magistratin Owens an, die ihrerseits den Blick auf den Sprecher aus Tosu-Stadt richtet.
Die beiden sehen sich einen Moment lang fest in die Augen, ehe Magistratin Owens antwortet: »Dem Gesetz entsprechend wird das Nichterscheinen bei der Prüfung wie Hochverrat behandelt.«
Und die übliche Strafe für Hochverrat ist der Tod.
Irgendjemand, vielleicht Malachi, erhebt flüsternd Protest. Mir stockt der Atem, als hätte jemand seine Arme um meine Brust geschlungen und würde fest zudrücken. Meine Aufregung darüber, ausgewählt worden zu sein, ist verflogen. Stattdessen hat sich eisige Furcht breitgemacht. Dabei gibt es gar nichts zu fürchten, denn ich will ja an der Auslese teilnehmen. Man wird mich nicht bestrafen müssen. Und auch keinen der anderen Kandidaten. Das Wort Hochverrat hat Zandris Widerspruchslust versiegen lassen.
Magistratin Owens sieht, wie geschockt wir alle sind. Sie erklärt uns, dass das Gesetz, welches die Strafe für die Verweigerung der Teilnahme an der Prüfung regelt, noch aus den ersten Tagen des Vereinigten Commonwealth stammt. Damals gab es anarchische Splittergruppen, die die neue Regierung stürzen wollten und zu diesem Zweck versuchten, Prüfungskandidaten zur Rebellion anzustiften. Es gibt immer wieder Ansätze dazu, die Vorschriften zu ändern, aber solche Dinge brauchen Zeit.
Ich fühle mich ein bisschen besser, denn wir erfahren außerdem, dass das Gesetz seit Jahrzehnten nicht zur Anwendung gekommen ist. Auch wird meine erloschene Aufregung neu entfacht, als die Magistratin uns mitteilt, was wir für Tosu-Stadt einpacken sollen. Die Prüfungskandidaten dürfen zwei Garnituren Alltagskleidung mitnehmen. Zwei Sets Unterwäsche. Einmal Nachtzeug. Zwei Paar Schuhe. Zwei persönliche Gegenstände. Keine Bücher. Kein Papier. Nichts, das einem Prüfling einen Vorteil gegenüber den anderen verschaffen könnte. Alles muss in die Tasche passen, die wir am Ende dieses Treffens ausgehändigt bekommen werden. Am folgenden Tag haben wir uns im Morgengrauen auf dem Markt einzufinden und unser Gepäck mitzubringen. Der Offizielle aus Tosu-Stadt, Michal Gallen, wird uns dort erwarten und zum Prüfungszentrum bringen. Die Magistratin betont, wie stolz sie auf unsere Leistungen ist und dass sie sich sicher ist, dass wir bei unserer Prüfung gut abschneiden werden. Aber ich weiß, dass sie lügt. Meine Mutter hat das gleiche gezwungene, übertrieben fröhliche Lächeln, wenn ihr etwas auf der Seele liegt. Magistratin Owens glaubt keineswegs, dass wir alle bestehen werden. Macht sie sich Sorgen, dass es auf die Five-Lakes-Kolonie zurückfallen könnte, falls wir versagen?
Darüber grübele ich noch immer nach, während sie uns zum Vordereingang begleitet.
Strahlender Sonnenschein begrüßt uns, als die Tür geöffnet wird. Ich bin die Letzte von uns vieren, die eine dunkelbraune Tasche mit dem roten und pinkfarbenen Logo des Vereinigten Commonwealth von Magistratin Owens entgegennimmt. Als ich mir den dicken Trageriemen über die Schulter hänge, fällt mir mit einem Schlag
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