Die Auslese: Nur die Besten überleben - Roman (German Edition)
erschießt?«
Meine Stimme ist bemerkenswert fest dafür, dass ich beinahe blind vor Zorn bin. Den Finger am Abzug, versuche ich, die unbändige Wut in mir so zu kanalisieren, dass ich einen Jungen töten kann, den ich mal für meinen Freund gehalten habe. »Ich habe bereits bewiesen, dass ich nicht kampflos aufgeben werde.«
Wills Lächeln wird breiter. Seine weißen Zähne blitzen in der wachsenden Dunkelheit. »Du bist schlau, Cia, aber du hast keinen Killer-Instinkt. Ich könnte mich jetzt umdrehen und einfach so davonspazieren, und du würdest mir nicht einmal hinterherschießen.«
»Wollen wir wetten?«, schreie ich. »Na los, stell mich auf die Probe.« Meine zitternde Hand straft meine vorgetäuschte Entschlossenheit Lügen. Einen Moment lang bin ich überzeugt, dass Will recht hat. Ich kann ihn nicht töten. Ich werde hier draußen auf dem Testgelände sterben.
»Cia.«
Mein geflüsterter Name aus dem Mund des Jungen, den ich liebe, stoppt mein Zittern. Tomas ist noch am Leben.
Will strafft die Schultern und zielt. Mein Finger drückt ab. Die Waffe in meiner Hand feuert eine Sekunde eher als die von Will. Meine Kugel trifft ihn in der rechten Körperhälfte und lässt ihn rückwärts torkeln, während sein Geschoss an meinem Ohr vorbei in die Dunkelheit zischt. Will schreit und rennt trotz seiner Schmerzen los, um zu seinem Gleiter zu kommen, als ich noch einmal den Abzug betätige.
Er taumelt, und ich weiß, dass ich auch dieses Mal mein Ziel nicht verfehlt habe. Ich höre, wie seine Pistole klirrend auf den Boden fällt, er sie aber wieder aufheben kann und es schafft, in seinen Gleiter hineinzuklettern. Wieder und wieder schieße ich, als er in seinem Gefährt vom Boden abhebt und davonzieht. Zwei weitere Schüsse, dann ist er außer Reichweite und auf direktem Weg zur Ziellinie.
Das letzte Dämmerlicht verblasst, als ich neben Tomas auf die Knie sinke. Der Adrenalinspiegel in meinem Körper sinkt, und ich fühle mich nur noch schwach, müde und verängstigt.
»Ist er weg?«, krächzt Tomas.
Ich gebe mich zuversichtlicher, als ich bin, und sage: »Mit ein bisschen Glück verliert er so viel Blut, dass er ohnmächtig wird und seinen Gleiter gegen einen Baum steuert, ehe er in Tosu-Stadt ankommt. Wo hat er dich getroffen?« Eine unsinnige Frage, denn ich kann deutlich sehen, wo Tomas’ blutverschmierte Hand seine Seite umklammert. Ich drehe ihn ein Stück herum und finde auf seinem Rücken eine blutige Austrittswunde. Ein glatter Durchschuss. Eine Sorge weniger, sage ich mir, als ich den Rest von dem Handtuch, das ich aus dem Prüfungszentrum mitgenommen habe, aus meiner Tasche hole, es in Streifen reiße und einen davon auf die Wunde presse. Während ich damit beschäftigt bin, den Blutfluss zu stoppen, zermartere ich mir das Hirn darüber, was ich von Dr. Flint über die menschliche Anatomie gelernt habe. Ich lege ein Ohr auf Tomas’ Brust und höre, dass sein Herzschlag zwar schnell, aber regelmäßig ist. Sein Atem hört sich gepresst an, jedoch ohne gurgelnd zu klingen. Seine Lunge ist also nicht mit Blut gefüllt. Beides sind gute Anzeichen, werden aber keine Rolle spielen, wenn ich ihn nicht zurück nach Tosu-Stadt schaffen kann.
Da sind die anderen Auslesekandidaten, die ebenfalls auf dieser Strecke unterwegs sind. Weil die Grenzzäune sich einander jetzt immer stärker annähern, gibt es kaum noch Möglichkeiten, uns zu verstecken. Mir bleibt nichts anderes übrig, als Tomas schleunigst ins Ziel zu bringen.
Ich falte ein paar der Stoffstreifen so zusammen, dass sie wie ein Schwamm das Blut aufsaugen können, und presse sie auf Tomas’ Wunde. Er hilft dabei, die Auflagen an Ort und Stelle zu halten, während ich sein zweites Hemd heraushole, es ihm um den Oberkörper binde und fest verknote. Dann gebe ich ihm eine der Flaschen, damit er ein paar Schlucke Wasser trinken kann, und sage: »Wir müssen zusehen, dass du nach Tosu-Stadt kommst. Kannst du laufen?«
»Ich kann es versuchen.«
Aber schon nach den ersten taumelnden Schritten ist uns beiden klar, dass das mit dem Laufen nichts wird.
Tomas lässt sich wieder auf den Boden sinken und schüttelt den Kopf. »Es hat keinen Sinn. Ich werde es nicht schaffen.«
»Du brauchst nur ein bisschen Zeit, um dich auszuruhen«, sage ich, obwohl ich doch genau weiß, dass das nicht stimmt. Die Zeit ist unsere Feindin. Jede Sekunde, die verrinnt, bedeutet weiteren Blutverlust, die drohende Gefahr einer Infektion, außerdem andere bewaffnete
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