Die Auslese: Nur die Besten überleben - Roman (German Edition)
arbeiten, begleitet vom Klang kratzender Bleistifte auf Papier und von eifrigem Radieren.
Wenn ich eine Aufgabe zu schnell gelöst habe, dann überprüfe ich sie wieder und wieder, um ganz sicher zu sein, dass ich sie nicht für einfacher gehalten habe, als sie in Wahrheit ist. Hat ein Problem mehr Zeit in Anspruch genommen, dann spüre ich fast körperlich, wie Sekunde um Sekunde verrinnt und wie ich den Aufgaben, die noch vor mir liegen, wertvolle Zeit stehle. Ich vermeide es, mich im Raum umzusehen, denn ich habe viel zu viel Angst davor, andere könnten bereits fertig sein und ruhig und mit gefalteten Händen an ihrem Pult sitzen. Ich habe noch drei Seiten vor mir, als das Summergeräusch ertönt. Mein Herz rutscht mir in die Hose. Ich habe so viele Fragen nicht geschafft, dass ich überzeugt davon bin, durchgefallen zu sein.
Die Prüfer schicken uns zu unseren Begleitern. Ich widerstehe dem Drang, um mehr Zeit zu bitten, und schnappe mir meine Tasche. Miss Jorghen zu Hause hätte uns ohne Zweifel eine Verlängerung gewährt. Sie liebte es, wenn wir Hingabe und Entschlossenheit zeigten. Hier zählen nur Ergebnisse. Uns werden dreißig Minuten Pause zugestanden, um uns erneut in unseren Quartieren frisch machen zu können, ehe wir uns zum Abendessen einzufinden haben. Ich würde mich viel lieber in mein Bett verkriechen, um mir die Decke über den Kopf zu ziehen, als etwas zu essen und die anderen zu treffen. Es ist schon schlimm genug, dass ich Ryme begegne, die genauso makellos aussieht wie am Morgen. Ein Blick in den Spiegel bestätigt mir, was ich ohnehin vermutet habe. Ich sehe völlig erledigt aus.
»Wie ist es gelaufen?«, fragt mich Ryme mit einem strahlenden Lächeln. »Ich finde ja, dass der Geschichtsteil ein bisschen simpel war. Was meinst du?«
Ich denke an die letzte Seite, die in meinem Heft leer geblieben ist, und zucke mit den Schultern. »Ich denke, sie haben die wichtigsten Punkte behandelt.«
»Und der Matheteil war lang, aber mal ernsthaft: Wenn sich jemand mit Differenzialrechnung nicht auskennt, dann sollte er nicht hier sein.«
Die Analysisaufgaben hatten sich im Mittelteil befunden. Wenigstens sprach Ryme jetzt über die Fragen, die ich bearbeitet hatte.
Ryme nimmt den Teller mit den Keksen und bietet mir welche davon an. Ich schüttele stumm den Kopf, und sie stellt sie wieder zurück und schnattert weiter. »Ich hätte ja erwartet, dass die Prüfung schwieriger werden würde. Wie wollen sie denn auf diese Weise die Leute aussieben, die eindeutig nicht hierhergehören?«
Bei ihrem mitleidigen Lächeln wird mir ganz schlecht. Es besteht kein Zweifel an ihrer Ansicht darüber, wer als Erste die Heimreise antreten sollte.
Als wir über Lautsprecher zum Abendessen gerufen werden, bin ich erleichtert. Ich achte kaum darauf, was ich mir auf meinen Teller häufe, ehe ich mich auf den Stuhl neben Tomas fallen lasse. Die anderen Kameraden aus unserer Kolonie sind noch nicht da. Tomas wirft mir ein gezwungenes Lächeln zu. Er sieht müde aus. Es ist die gleiche Erschöpfung, die ich vor einigen Minuten im Spiegel gesehen habe.
»Wie bist du zurechtgekommen?«, fragt er.
Rings um uns herum klirrt Besteck auf Porzellan. Die Leute lachen und sprechen immer lauter und lauter, um sich über das Getöse hinweg Gehör zu verschaffen. Jeder prahlt entweder mit seiner intellektuellen Glanzleistung oder badet in Selbstmitleid. Uns hört niemand zu, deshalb entscheide ich mich, ehrlich zu sein. »Ich habe nicht alle Fragen geschafft. Mir ist die Zeit davongelaufen.«
Tomas’ Lächeln wird breiter, als er sich mit den Händen durch die Haare streicht. »Ich dachte schon, da wäre ich der Einzige. Dabei habe ich mich die ganze Zeit über gefragt, wie sie erwarten können, dass irgendjemand so viele Fragen in so kurzer Zeit beantworten kann. Am Ende des Mathe-tests hatte ich das Gefühl, dass mir mein Gehirn gleich aus den Ohren tropft.«
Ich lache und spüre, wie die Anspannung von mir abfällt. Wenn jemand, der so klug ist wie Tomas, nicht alle Aufgaben bewältigt hat, dann bezweifle ich, dass es überhaupt vielen gelungen ist. Tomas ist doch so clever.
Endlich tauchen auch Malachi, Zandri und ihre Zimmergenossen auf. In ihren Augen sehe ich Sorge und Müdigkeit, und ich frage mich, ob auch sie ganze Seiten leer gelassen haben. Ich denke daran, wie erleichtert Tomas eben war, als er hörte, dass noch jemand anders nicht fertig geworden ist, und versuche, die Reaktionen derer abzuschätzen, die
Weitere Kostenlose Bücher