Die Auslese: Nur die Besten überleben - Roman (German Edition)
sagen: »Unsere Lehrer haben ihre Sache schon ganz gut gemacht. Tomas und ich waren mit dem Leseteil sogar vor Ablauf der Zeit fertig. Wie steht’s mit dir?« Die Überraschung auf ihrem Gesicht verrät mir, dass das bei ihr anders ausgesehen hat, und ich lächele sie spöttisch an. »Ich denke, du hast recht damit, dass eine von uns beiden morgen heimfahren muss. Zu blöd. Vergiss nur nicht deine Getreidekekse, wenn du aufbrichst.« Mein Ton ist hochnäsig und klingt wie der, den ich immer meinen Brüdern gegenüber angeschlagen habe, wenn sie mich mit irgendetwas aufziehen wollten; außerdem konnte ich mir die letzte Bemerkung, die ein ziemlicher Tiefschlag war, nicht verkneifen. Doch sofort steigt eine andere Art von Hitze in mir auf. Scham. Ich warte darauf, dass Ryme die verbale Attacke erwidert. Das hätte ich verdient. Aber das tut sie nicht. Sie schaut einfach nur auf ihre Hände hinunter.
»Es tut mir leid«, sage ich.
Sie hebt den Blick und schaut mir in die Augen. Dann zeigt sie mir ein ultrabreites Lächeln. »Aber was denn?«, fragt sie zuckersüß. »Du hast nur versucht, dich irgendwie besser zu fühlen, nachdem du zugegeben hast, dass es bei dir heute nicht gut gelaufen ist. Bei vielen der schlechteren Schülerinnen zu Hause war das ganz genauso, ich kenne dieses Verhalten.«
Grr . Dieses Mädchen bettelt ja geradezu um Schläge. Um mich davon abzuhalten, etwas zu tun, weswegen ich mich später schlecht fühlen würde, werfe ich mich wortlos auf mein Bett, schließe die Augen und kehre Ryme den Rücken zu, bis wir zum Abendbrot gerufen werden. Noch ehe die Durchsage zu Ende ist, habe ich das Zimmer bereits verlassen.
Beim Essen herrscht beinahe euphorische Stimmung. Zwar sind alle müde, aber die Anspannung, unter Druck Höchstleistungen erbringen zu müssen, ist für diesen Abend von uns allen abgefallen. Auch das Essen trägt zur fröhlichen Atmosphäre bei. Es gibt Pizza. Sie ist warm, der Käse darauf zieht Fäden, und sie schmeckt besser als alles, was ich bislang jemals gegessen habe. Ich verputze sechs Stücke, ehe mein Magen kurz davor ist zu platzen. Zandri bringt die Zwillinge dazu, Witze zu erzählen, und wir alle lachen noch, als sich pfeifend und knackend der Lautsprecher meldet.
»Malencia Vale. Bitte melde dich auf dem Gang. Vielen Dank.«
Es wird still im Speisesaal. Mein Herz hämmert bis zum Hals hinauf. Sind die Prüfer bereits zu dem Schluss gekommen, dass ich durchgefallen bin? Jeder am Tisch starrt mich mit fragenden Blicken an. Ich scheine auszusehen, als ob ich gleich durchdrehe, denn Tomas nimmt meine Hand und sagt: »Ich wette, sie wollen dich fragen, ob du nicht lieber selber unterrichten willst, als dich in Zukunft in Vorlesungen zu setzen. Pass auf, dass sie dir genug Gehalt anbieten, ehe du ›Ja‹ sagst.«
Na sicher. Ich werfe ihm ein gequältes Lächeln zu und stehe auf. Alle Blicke folgen mir, als ich steifbeinig durch den Mittelgang des Speisesaals stakse, vorbei an all den anderen Tischen, um durch die Seitentür hinauszugehen. Vermutlich versucht jetzt jeder, eine gute Position zu ergattern, um mich durch die Glaswand hindurch beobachten zu können. Ich umklammere meine Tasche, bleibe auf dem Gang stehen und warte auf die Dinge, die da kommen mögen.
»Malencia Vale?«
Ich drehe mich beim Klang der vertrauten Stimme nach rechts. Der freundliche grauhaarige Mann von der gestrigen Morgenversammlung – Dr. Jedidiah Barnes. Hinter ihm stehen zwei Offizielle, und alle tragen ihre purpurne Dienstkleidung. »Jeder hier nennt mich Cia«, sage ich. Er lächelt.
»Beides klingt hübsch.« Ich versuche, mir eine Erwiderung einfallen zu lassen, allerdings ohne Erfolg. Glücklicherweise erwartet er gar keine Antwort von mir, sondern fährt fort: »Bitte entschuldige, dass wir dich von deinem Abendessen wegholen, aber Ryme Reynolds’ Freunde machen sich Sorgen, wo sie wohl steckt. Wann hast du sie das letzte Mal gesehen?«
Ich blinzele. Dann geht es also um Ryme und nicht um mich. Es hat nichts mit meinen Testergebnissen zu tun. Erleichterung steigt in mir auf, gefolgt von Verwirrung. »Ryme hat noch an ihrem Schreibtisch gesessen, als ich zum Speisesaal losgegangen bin.«
»Und ging es ihr gut?«
Sie war arrogant. Nervtötend. Grundlos auf Konfrontation aus. »Ich glaube, die heutigen Prüfungen haben sie belastet.«
»Acht Stunden Prüfungen an zwei aufeinanderfolgenden Tagen sind eine enorme Belastung für jeden.« Dr. Barnes lächelt entschuldigend. »Jedes
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