Die Auslese: Nur die Besten überleben - Roman (German Edition)
X und dem Kreis drum herum zur Hand. Romans Handschrift ist sauberer, als ich es seinem Erscheinungsbild nach erwartet hätte. Ich höre die warnende Stimme meiner Mutter, dass ich mich niemals vom äußeren Eindruck blenden lassen solle, und lese die Seite mit Zahlen und Formeln für die erste Aufgabe. Seine Lösung beeindruckt mich. Zwar bin ich auch auf das richtige Ergebnis gekommen, aber Roman hat offensichtlich einige Berechnungen im Kopf angestellt, was der Grund dafür war, dass er als Erster fertig war. Seine Bearbeitung der Aufgabe verrät deutlich, warum er für die Auslese ausgewählt worden ist. Er ist schlau. Sehr schlau.
Und das ist der Grund, warum seine Antworten auf die anderen Fragen keinen Sinn ergeben. Bruchstückhafter Unsinn füllt die nächsten Seiten. Wir waren alle so beschäftigt damit herauszufinden, wer die richtigen Lösungen für die einzelnen Fragen hatte, dass wir uns weder um die Aufzeichnungen der anderen gekümmert haben noch um die Wege, wie sie zu ihren Ergebnissen gekommen sind.
Romans Kritzeleien machen eines offensichtlich: Ihm ging es gar nicht darum, richtige Antworten zu finden. Er hat einfach nur abgewartet. Warum?
»Cia.«
Ich schrecke zusammen, als Bricks Stimme die Stille durchbricht, und folge seinem Blick zum Licht über der Tür. Grün. Wenn ich es schätzen sollte, würde ich sagen, dass noch nicht einmal eine halbe Stunde vergangen ist, seitdem Annalise durch die Tür verschwunden ist. Kann sie wirklich ihre beiden Aufgaben in so kurzer Zeit bewältigt haben? Mit zitternden Händen nehme ich das Heft mit dem anderen achtstrahligen Stern und blättere die Seiten durch.
Ja. Ihre Aufzeichnungen sind klar. Stimmig. Selbstbewusst. Ihre logischen Schlüsse weisen keine Widersprüche auf, soweit ich das sehen kann. Wenn irgendjemand zwei Tests in weitaus weniger Zeit durchziehen könnte als ein anderer Kandidat, der nur eine Aufgabe zu erledigen hatte, dann wäre das Annalise. Und trotzdem …
»Gehst du rein?«, fragt Brick.
»In einer Minute«, sage ich. Durch die Tür zu treten ist meine einzige Option. Der alleinige Weg, diesen Prüfungsteil hinter mich zu bringen. Das Problem ist das, was geschehen wird, wenn ich den Raum verlassen habe. Ich denke zurück an die Anweisungen der Offiziellen. An Romans Beharren darauf, als Erster zu gehen. Nur eine einzige Antwort ist pro Frage erlaubt. Punkte pro Antwort zählen für uns alle. Jeder Versuch, eine Problemstellung ein zweites Mal zu lösen, wird bestraft werden.
Annalises Prüfungsheft fällt mir aus den Fingern, und meine Knie werden weich, als sich plötzlich alles zusammenfügt. Romans mangelnde Anstrengung bei den anderen Aufgaben. Die lange Zeit, die es gedauert hat, bis das rote Licht nach seiner Runde wieder grün wurde. Dr. Barnes hat uns eingeschärft, dass es bei diesem dritten Test nicht nur um unsere Fähigkeit gehe, mit anderen zu kooperieren, sondern auch darum, die Stärken und Schwächen der Mitstreiter korrekt einzuschätzen. Wenn ich recht habe, dann hat Roman unsere Gruppe vollkommen richtig beurteilt und will uns dazu bringen, in seine Falle zu tappen.
Eine Falle, die Annalise bereits zum Verhängnis geworden sein muss.
Ich lasse mich schwer auf den Stuhl hinter mir fallen und hole einige Male tief Luft, um die aufsteigende Panik in den Griff zu bekommen. Wenn ich recht habe, dann darf ich auf keinen Fall versuchen, die Aufgabe zu lösen, die mir mein Team zugeteilt hat. Wenn ich mich hingegen irre und keinen Versuch unternehme, meinen Teil zu bearbeiten, könnte das bedeuten, dass ich die Prüfung nicht bestehe. Ich muss mich entscheiden, was ich glauben will.
Mein Herz hämmert, als ich Brick anschaue. Sein ruhiges Verhalten und sein dürftiges Abschneiden bei den Übungsaufgaben bekommen einen schalen Nachgeschmack. Weiß er von Romans Plan? Haben sie ihn gemeinsam ausgeheckt? Bricks Heft könnte mir die Antworten auf diese Fragen geben, aber es befindet sich im Augenblick auf dem Tisch vor ihm unter seinem Ellbogen. Um an seine Musteraufgaben zu kommen, muss ich ihm meine Bedenken anvertrauen. Wenn er nichts mit Romans Falle zu tun hat, wird er von mir davon erfahren und die Prüfung bestehen, obwohl er es gar nicht verdient hätte.
Brennend heiße Scham überkommt mich. Eine sich aufdrängende, Übelkeit erregende Verlegenheit. Meine Gedanken machen mich zu einer Person, die nicht viel besser ist als Roman. Ich werde nicht so tief sinken, andere ins offene Messer laufen zu lassen,
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