Die Aussortierten (German Edition)
zusammen mit einer Marzipantorte, die er in einer Konditorei gekauft hatte. Er wusste zwar, dass diese Torte wahrscheinlich wie bei konventionellen Konditoreien üblich mit Backmitteln hergestellt war und nicht unbedingt ein gesundes Nahrungsmittel war, aber das war ihm egal. Diese Art von Torte schmeckte einfach gut, und ab und zu brauchte er so eine Zuckerbombe. Er genoss es, gemütlich einfach nur dazusitzen, nichts zu tun, und mehr oder weniger gedankenlos aus dem Fenster zu schauen. Dies war eine wunderbare Entspannung. Als er eine Weile so dagesessen hatte, überlegte er, was er denn anziehen sollte. Dorothea, Taubers Frau, war eine ausgesprochen attraktive Frau von Anfang vierzig. Ihr genaues Alter wusste er nicht. Er mochte sie sehr gern und wusste, dass sie es wie Tauber liebte, sich für solche Anlässe aufzubretzeln. „Da kann ich nicht in meinen Gammelklamotten hingehen. Da muss ich mir mal ein bisschen Mühe geben“, dachte er. Über einen richtigen Anzug verfügte er nicht. Nur über ein paar Jackets und gute Hemden und zwei dunkle, marineblaue Hosen aus vermutlich Baumwolle, jedenfalls aus irgendetwas, das angenehm zu tragen und nicht so ein anzugartiger Stoff war. Er entschied sich, ein hellblaues Hemd zu einer dieser Hosen und ein Jacket anzuziehen. Das war für seine Verhältnisse schon ein gehobener Kleidungsstil, aber gleichzeitig noch so, dass er sich darin wohl fühlen konnte.
„Wie man es macht, macht man es falsch“, dachte de Wall spontan, als Dorothea ihm aufmachte und mit einem Kuss auf die Wange begrüßte. Sie war nämlich eher leger gekleidet. Ein langer, fast bis zu den Fersen reichender Rock aus einem leichten Stoff in der Grundfarbe grün, bedruckt mit blauen Blüten. Dazu trug sie eine weiße Bluse und eine kurze blaue Strickjacke und braune Lederstiefel. Eine Garderobe, die ihr einen leicht alternativen Touch gab, und doch strahlte sie wie immer bürgerliche Eleganz aus. Auch ihr Make-up war perfekt. Sie konnte anziehen, was sie wollte. Sie würde sogar in Lumpen noch als gutsituierte Dame durchgehen. „Da komme ich nie hin. Außer in Jeans und Pullover sehe ich immer so aus, als ob ich die Klamotten von jemand anders trage“, dachte de Wall. „Sie hat eben das, was man in der Soziologie den ‚legitimen Habitus’ nennt.“ Er hatte noch nie mit ihr darüber gesprochen, aber er war sich sicher, dass sie aus einer eher bürgerlichen Familie kam.
Als sie in der Weser-Ems-Halle ankamen, mussten sie sich schon beeilen. Denn es war kurz vor acht und schon alle Plätze besetzt. Dorothea führte de Wall zielsicher in die erste Reihe, wo noch zwei Plätze frei waren. Genau dort erblickte de Wall Dr. Bretendorp, der sofort aufsprang, als er Dorothea erkannte und sie freudig begrüßte, und dann ein wenig verwundert auf de Wall schaute und ihn auch begrüßte. Dorothea war dies nicht entgangen und sie erläuterte von sich aus, um jedwedes Gerücht im Keim zu ersticken, dass ihr Mann kurzfristig auf eine Dienstreise musste, und Dr. de Wall sich auf Bitten ihres Mannes freundlicherweise bereit erklärt habe, sie heute zu begleiten. Bretendorp stellte dann den neben ihm sitzenden Pakenweber vor. Dann betrat Dr. Bretendorp zusammen mit seinen Gast die Bühne und der Abend nahm seinen Lauf mit allem bildungsbürgerlichem Klimbim, wie er bei solchen Veranstaltungen üblich ist. Als Bretendorp die Bühne wieder verließ, um sich wieder auf seinen Platz zu setzen, hatte de Wall einen Moment lang das Gefühl, einen Gedanken auf der Zunge zu haben, den er einfach nicht ausdrücken konnte. Bretendorp setzte sich und überschlug seine Beine. Und da sah de Wall es. Er traute seinen Augen nicht. De Wall erkannte auf den Schuhen von Bretendorp eindeutig das Logo der Hamburger Schuhmanufaktur Sieberg. Konnte es so blöde Zufälle geben? Offensichtlich, es musste ein Zufall sein. Es konnte gar nicht anders sein. Warum sollte Bretendorp Restaurants überfallen? Außerdem waren die Täter, darin waren sich alle Zeugen einig, junge, sportliche Männer. Und Bretendorp, der etwa Mitte bis Ende Fünfzig sein dürfte, passte weder vom Alter noch von seiner Statur und erst Recht nicht, was seine Beweglichkeit anging. Nein, das musste ein Zufall sein. Absurder Gedanke, dass Bretendorp etwas damit zu tun haben könnte. Nein, nein, es war eine Gang von jungen Männern aus der Obersch.....Aber Bretendorp könnte ja Kinder haben. Mein Gott, dachte de Wall. Das könnte sein.
Zweieinhalb Stunden
Weitere Kostenlose Bücher