Die Australierin - Von Hamburg nach Sydney
nichts anfangen und für mich warst du auch ganz fremd. Als ich dich zuletzt gesehen hatte, warst du ein kleiner Junge, mein kleiner Bruder.« Schweigend sahen sie einander an.
»Wir werden nie wieder den Kontakt verlieren, das schwöre ich dir«, sagte er leise.
»Lasst uns hineingehen«, unterbrach Carl sie. »Ich habe Hunger und Inken hat sicher groß aufgetischt.« Er lachte herzlich.
»Das stimmt.« Emilia zog die beiden mit sich hinein.
Zur Feier des Tages hatte Inken im Esszimmer gedeckt und auch das feine Geschirr genommen. In der Küche auf der Bank saß Lily und lutschte an einer kandierten Frucht. Sie machte einen vergnügten Eindruck und schien sich dort sehr wohl zu fühlen.
So wie ich früher, dachte Emilia.
»Unsere Tochter«, sagte Carl stolz.
Als Lily ihn sah, quietschte sie vor Vergnügen und streckte die Ärmchen zu ihm aus. Er nahm sie hoch und herzte sie.
»Das ist also meine Nichte«, sagte Julius ganz ehrfürchtig. Vorsichtig strich er ihr über das Köpfchen. »Und bald wird die Familie ja noch größer. Ich kann es gar nicht fassen. Ich habe mich in den letzten Monaten so einsam gefühlt und bin so froh, dass ihr den Weg hierher gefunden habt.«
Es war ein schöner gemeinsamer Abend, sie hatten sich viel zu erzählen. Immer wieder hielt Emilia den Atem an, dachte, dies sei ein Traum und gleich würde sie aufwachen. Sie konnte den Blick kaum von ihrem Bruder wenden.
»Wie lange bleibst du bei uns?«, wollte sie wissen.
»Nur ein paar Tage«, sagte er bedauernd. »Dann fahre ich zu Onkel Hinrich. Ich habe die Schule in Essex beendet und werde nun hier weitere Studien aufnehmen. Zudem will der Onkel mich im Kontor einarbeiten.«
Bei der Erwähnung des Onkels zuckte Emilia zusammen. Ihr Bruder ging darüber hinweg. »Aber ich werde dich sicher oft besuchen kommen. Der Onkel hat mir ein Reitpferd versprochen.«
Anna hatte stumm mitgegessen. Hin und wieder schaute sie fragend in die Runde, schüttelte dann den Kopf.
»Ist Martin bei Hinrich, dem Nichtsnutz?«, fragte sie plötzlich laut. »Immer dieser Hinrich, weiß alles besser. Und Minna, die alte Schabracke, muss immer die teuersten Sachen haben. Kommt Martin bald?«
»Vater ist tot«, sagte Julius.
»Natürlich ist Vater tot. Aber Martin, kommt er bald?« Dann versank sie wieder in ihr düsteres Schweigen. Inken, die den Tisch abräumte und den Cognac servierte, trat zu Anna. »Es ist Zeit, ins Bett zu gehen, Gnädigste. Ich helfe Ihnen.«
Anna kniff die Augen zusammen. »Du bist doch die Inken?«
»Ja, gnädige Frau, die bin ich.«
»Gut.« Sie schob den Stuhl nach hinten und stand auf. »Martin soll bald kommen.«
»Sobald er da ist, schicke ich ihn zu Euch«, versprach Inken.
»Vor einem Jahr war sie noch ganz anders«, sagte Julius leise. »Da stand sie noch mitten im Leben. Die Cholera hat sie überlebt, Vaters Tod jedoch nicht verkraftet.«
Zwei Tage später musste Emilia sich schließlich von Carl verabschieden. Die Tränen flossen nur so. Auch Carls Augen glitzerten und er zwinkerte heftig, als er Lily zum Abschied küsste.
»Es sind doch nur ein paar Monate«, sagte er. »Ich lasse dich kommen, so schnell es geht. Ich habe dir alle Häfen aufgeschrieben, die wir anlaufen werden, bitte schreib mir.«
Emilia konnte nicht sprechen, die Trauer und die Angst vor den kommenden einsamen Monaten schnürten ihr die Kehle zu.
»Der Lotse ist für übermorgen bestellt. Wir werden mit der Flut auslaufen. Wirst du am Ufer stehen? Den Gedanken fänd ich tröstlich.«
»Natürlich«, presste Emilia hervor.
Sie sah der Kutsche so lange nach, bis auch die letzte Staubwolke verflogen war. Abends setzte sie sich an ihren Schreibtisch und schrieb ihm den ersten Brief.
In der letzten Zeit hatte sie immer gewusst, dass er in den nächsten Tagen wiederkommen würde, aber nun war es ungewiss, wann sie sich wiedersahen. Vielleicht nie. Die Fahrt war lang und gefährlich. Was, wenn die »Lessing« kentern würde? Was, wenn sie leckschlug und sie nie wieder etwas von ihm hörte? Der Gedanke war kaum zu ertragen. Und auch ihre Zukunft barg viele Risiken. Die erste Geburt hatte sie gut überstanden, aber so manche Frau war schon im Kindbett gestorben. Ihre Freundin Mette hatte letztes Jahr das Fieber dahingerafft. Was würde dann aus Lily werden? Emilia schob die trüben Gedanken beiseite und ging in die Küche zu Inken. Hier hatte sie sich immer geborgen und sicher gefühlt, hier würde sie auch die nächsten Monate überstehen.
Carl
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