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Die Auswahl. Cassia und Ky

Titel: Die Auswahl. Cassia und Ky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ally Condie
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was Sie wissen müssen.«
    Ich will das nicht tun. Für einen Augenblick erwäge ich, den Datenpod in eines der Wasserbecken zu werfen und untergehen zu lassen.
    Was würde Ky tun, wenn er hier oben stünde?
    Ich werfe den Datenpod nicht weg. Ich hole ein paarmal tief Luft. Der Schweiß läuft mir den Rücken hinunter, und eine Haarsträhne hängt mir ins Auge. Ich streiche sie mit einer Hand zurück, straffe die Schultern und blicke hinaus zu den Arbeitern. Meine Augen springen von Arbeitsplatz zu Arbeitsplatz. Ich versuche, nicht auf die Gesichter zu achten, sondern nur Zahlen zu sehen. Ich suche nach schnellen und langsamen Mustern. Ich fange an zu sortieren.

    Das Unheimlichste an der ganzen Sache ist, dass ich sehr, sehr gut darin bin. Sobald ich mir vorgenommen habe, das zu tun, was Ky an meiner Stelle tun würde, stelle ich mir keine Fragen mehr. Während des gesamten Sortiervorgangs achte ich auf das Arbeitstempo, suche nach Mustern und halte Ausschau nach den Ausdauerndsten. Ich entdecke die Langsameren und Gleichmäßigeren, die mehr erledigen, als man denken könnte. Ich sehe die Schnellen und Geschickten, die die Besten von allen sind. Ich bemerke einige, die nicht richtig mitkommen. Ich sehe ihre Hände, die sich im Dampf bewegen, und ich sehe den unablässig strömenden Fluss der Alubehälter, die sich unterwegs von schmutzig in sauber verwandeln.
    Aber die Menschen sehe ich nicht. Ich sehe keine Gesichter.
    Als die drei Stunden beinahe um sind, bin ich fertig, und ich weiß, dass ich gute Arbeit geleistet habe. Ich weiß, dass ich die besten Arbeiter der Gruppe nach Nummern klassifiziert habe.
    Aber ich kann nicht widerstehen. Ich sehe mir die Nummer des Arbeiters an, der genau in der Mitte zwischen dem besten und
     dem schlechtesten Arbeiter der Gruppe steht.
    Es ist die Nummer auf Kys Rücken.
    Am liebsten würde ich lachen und weinen zugleich. Es ist, als wolle er mir eine Botschaft senden. Niemand passt sich so perfekt an wie er, niemand beherrscht wie er die Kunst, so exakt durchschnittlich zu funktionieren. Einige Sekunden lang erlaube ich mir, den jungen Mann im blauen Anzug mit den dunklen Haaren zu beobachten. Mein Instinkt befiehlt mir, ihn den Leistungsfähigsten zuzuordnen – ich weiß, dass er dahingehört. Diese Gruppe wird eine neue Arbeitsstelle erhalten. Vielleicht müssen sie die Stadt verlassen, aber wenigstens würde er nicht für immer hier gefangen sein. Dennoch bringe ich es nicht fertig. Wie würde mein Leben aussehen, wenn er nicht mehr da wäre?
    Ich stelle mir vor, wie ich die Leiter hinuntersteige und ihn inmitten dieser Hitze und des Lärms fest umarme. Und dann denke ich mir noch etwas Besseres aus. Ich stelle mir vor, wie ich zu ihm hingehe, ihn an der Hand nehme und ihn weg von diesem Ort, hinaus in das Licht und an die Luft führte. Ich wäre in der Lage dazu. Ich könnte ihn bei den Besseren eingruppieren, dann bräuchte er nicht mehr hier zu arbeiten. Sein Leben wäre angenehmer. Und ich könnte diejenige sein, die ihm das ermöglicht. Und plötzlich ist mein Wunsch, das Verlangen, ihm zu helfen, sogar stärker als das egoistische Verlangen, ihn in meiner Nähe zu behalten.
    Aber dann denke ich an den Jungen in der Geschichte, die er mir geschenkt hat. Den Jungen, der alles getan hat, um zu überleben. Was würden die Instinkte dieses Jungen sagen?
    Er würde wollen, dass ich ihn in die schlechtere Gruppe einsortiere.
    »Und, fast fertig?«, fragt mich die Funktionärin. Sie wartet auf der Metalltreppe ein paar Stufen unter mir. Dann kommt sie herauf, und ich nehme schnell die Nummer eines anderen Arbeiters, der so ziemlich in der Mitte steht, damit sie nicht weiß, dass ich Ky beobachtet habe.
    Sie stellt sich neben mich, wirft einen Blick auf die Zahl und dann auf die Person am Boden. »Die mittelmäßigen Arbeiter sind immer am schwierigsten zu sortieren«, sagt sie verständnisvoll. »Man weiß nicht so recht, was man tun soll.«
    Ich nicke, aber sie ist noch nicht fertig.
    »Einfache Arbeiter wie diese werden meist keine achtzig Jahre alt«, sagt sie mit leiser Stimme. »Viele von ihnen sind als Aberrationen klassifiziert, wissen Sie. Die Gesellschaft legt nicht den gleichen Wert darauf wie bei anderen, dass sie das optimale Alter erreichen. Viele sterben jung. Nicht sehr jung, natürlich. Nicht so wie vor der Gesellschaft oder in den Äußeren Provinzen. Aber mit sechzig, siebzig. Niedere Arbeiten in der Nahrungsmittelentsorgung sind besonders gefährlich,

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