Die Auswahl. Cassia und Ky
trotz aller Vorsichtsmaßnahmen, die wir ergreifen.«
»Aber …« Der Schrecken auf meinem Gesicht überrascht sie nicht sonderlich, und mir wird klar, dass all das zum Test dazugehört. Ein unbekannter Faktor, der plötzlich bei einem ansonsten eindeutigen Sortiervorgang auftaucht, gerade wenn man glaubt, fertig zu sein. Doch ich frage mich:
Was geht hier vor? Warum geht es bei diesem Test um etwas so Wichtiges?
Hier ist etwas im Gange, das größer ist als ich, größer als Ky.
»Diese Informationen sind selbstverständlich streng vertraulich«, erklärt die Funktionärin. Dann blickt sie auf ihren Datenpod. »Ich gebe Ihnen noch zwei Minuten.«
Ich muss mich konzentrieren, aber mein Gehirn ist mit einem Sortiervorgang eigener Art beschäftigt. Es stellt verschiedene Fragen und listet sie auf, um zu einer Antwort zu gelangen:
Warum sterben die Arbeiter früh?
Warum durfte Großvater eigentlich nichts von seinem Essen beim Abschiedsbankett abgeben?
Warum arbeiten so viele Aberrationen in der Nahrungsmittelentsorgung?
Sie vergiften das Essen für die alten Leute.
Jetzt ist alles klar. Unsere Gesellschaft brüstet sich damit, niemals einen Menschen zu töten und die Todesstrafe abgeschafft zu haben. Doch nach dem, was ich hier gesehen und über die Äußeren Provinzen erfahren habe, weiß ich, dass man andere Methoden gefunden hat, die Missliebigen loszuwerden. Das Überleben des Stärkeren. Natürliche Auslese. Mit der Hilfe unserer Götter – den Funktionären.
Wenn ich schon Gott oder Engel spielen muss, dann werde ich das Beste für Ky herausholen. Ich kann nicht zulassen, dass er sein ganzes Leben in dieser Halle verbringt und dass er früh stirbt. Da draußen muss es etwas Besseres für ihn geben. Noch habe ich genügend Vertrauen in die Gesellschaft, um daran zu glauben. Ich habe viele Leute ein gutes Leben führen sehen, und ich möchte, dass auch Ky ein solches Leben ermöglicht wird. Ob ich ein Teil davon sein kann oder nicht.
Ich sortiere Ky in die bessere Gruppe ein und schließe den Datenpod, als hätte mich die Entscheidung kaum eine Überlegung gekostet.
Doch innerlich schreie ich.
Ich hoffe, ich habe die richtige Entscheidung getroffen.
»Erzähl mir mehr von dort, wo du herkommst«, bitte ich Ky am nächsten Tag auf dem Hügel. Ich hoffe, dass er die Verzweiflung in meiner Stimme nicht heraushört und mich nicht nach dem Praxistest fragt. Ich muss mehr über ihn in Erfahrung bringen. Ich muss wissen, ob ich das Richtige getan habe. Der Test hat die Beziehung zwischen uns verändert. Wir fühlen uns beobachtet, sogar hier zwischen den Bäumen. Wir reden leise und sehen uns nicht zu lange an.
»Alles dort ist rot und orange. Diese Farben sieht man hier nicht oft.«
»Stimmt«, sage ich und versuche, an etwas Rotes zu denken. Einige Kleider beim Paarungsbankett. Das Feuer in den Verbrennern. Blut.
»Warum gibt es hier so viel Grün, Braun und Blau?«, fragt er.
»Vielleicht, weil das Pflanzenfarben sind und unsere Provinz größtenteils ländlich ist«, antworte ich. »Du weißt schon: Blau ist die Farbe des Wassers, Braun die Farbe des Herbstes und der Ernte und Grün die Farbe des Frühlings.«
»Ja, das sagen die Leute immer«, erwidert Ky. »Aber Rot ist die erste Farbe des Frühlings. Es ist die wahre Farbe der Wiedergeburt. Des Neubeginns.«
Er hat recht. Ich denke an den rötlichen Schimmer der festen Knospen an den Bäumen. An das Rot seiner Hände gestern in der Nahrungsmittelentsorgung und den Neubeginn, den ich ihm hoffentlich ermöglicht habe.
KAPITEL 27
A
chtung! Achtung!
Das Licht am Laufband flackert, und Warnungen ziehen über das Display.
Sie haben die Maximalgeschwindigkeit früher erreicht als für diese Trainingseinheit empfohlen!
Ich drücke auf die Bedienungstasten, so dass ich sogar noch schneller laufe.
Achtung! Achtung! Sie haben Ihre optimale Pulsfrequenz überschritten!
Normalerweise höre ich rechtzeitig auf, wenn ich es auf dem Laufband übertreibe. Ich gehe an die Grenze, aber nicht darüber hinaus. Doch wenn ich zu oft an die Grenze gehe, werde ich eines Tages hinuntergeschubst werden oder von selbst fallen.
Vielleicht ist es Zeit, abzuspringen. Aber das kann ich nicht, ohne alle, die ich liebe, mit mir in den Abgrund zu reißen.
Achtung! Achtung!
Ich laufe zu schnell. Ich bin zu müde. Das weiß ich. Aber mein Sturz überrascht mich trotzdem.
Ich rutsche aus, und ehe ich mich versehe, stürze ich auf das Laufband, das immer weiterläuft
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