Die Auswahl. Cassia und Ky
und meine Haut verbrennt, verbrennt, verbrennt. Einen Moment lang bleibe ich vor Schreck liegen, die Glieder in Flammen, dann rolle ich mich schnell beiseite. Das Laufband rotiert weiter, wird mein fehlendes Gewicht aber bald registrieren. Es wird anhalten, und dann werden sie wissen, dass ich nicht durchgehalten habe. Wenn ich aber rechtzeitig wieder aufspringe, wird niemand erfahren, was geschehen ist. Ich werfe einen Blick auf meine Haut, die das Laufband aufgeschürft hat.
Rot.
Ich rappele mich auf, spanne die Muskeln an und springe genau zum richtigen Zeitpunkt auf. Ich laufe weiter. Mit hämmernden Schritten. Bamm. Bamm. Bamm bamm bamm.
Von meinen Knien und Ellbogen fließt das Blut in Strömen, und ich habe Tränen in den Augen, aber ich laufe weiter. Meine Zivilkleider werden die Wunden morgen verbergen, und niemand wird erfahren, dass ich gestürzt bin. Niemand wird je etwas erfahren, bevor es zu spät ist.
Als ich nach dem Laufen zurück nach oben komme, winkt mich mein Vater zum Terminal. »Gerade rechtzeitig«, sagt er. »Jemand möchte dich sprechen.«
Auf dem Terminal warten die Sortier-Funktionäre. »Ihr Ergebnis ist hervorragend«, eröffnet mir die blonde Funktionärin. »Gratuliere, Sie haben den Test bestanden. Ich bin sicher, dass Sie schon bald etwas über Ihre zukünftige Arbeitsstelle erfahren werden.«
Ich nicke. Schweiß rinnt mir über das Gesicht, und Blut fließt aus den Wunden an meinen Beinen und Armen. Aber die Frau kann nur den Schweiß sehen. Ich ziehe meine Ärmel ein Stück weiter herunter, so dass niemand erfährt, dass ich verletzt bin und blute.
»Danke. Ich freue mich darauf.« Ich trete zurück, in dem Glauben, das Terminalgespräch sei beendet, aber die Funktionärin hat noch eine Frage an mich.
»Sind Sie sicher, dass Sie keine Änderungen mehr vornehmen wollen, ehe die Sortierung durchgeführt wird?«
Meine letzte Chance, mein Urteil zu revidieren. Fast hätte ich es getan. Ich weiß die Nummer auswendig, es wäre so leicht. Aber dann denke ich daran, was die Funktionärin über die Lebenserwartung gesagt hat. Die Worte verwandeln sich in meinem Mund zu Steinen. Es fällt mir schwer zu sprechen.
»Cassia?«
»Ja, ich bin mir sicher.«
Ich wende mich vom Terminal ab und hätte beinahe meinen Vater umgerannt. »Gratuliere!«, sagt er. »Tut mir leid, ich hoffe, es macht dir nichts aus, dass ich zugehört habe. Sie haben nicht gesagt, es sei ein vertrauliches Gespräch.«
»Nein, schon in Ordnung«, sage ich. Und nach einem Moment: »Hast du dich je gefragt, ob …« Ich muss mich unterbrechen, weil ich nicht weiß, wie ich meine Frage in Worte fassen soll. Ich möchte ihn fragen, ob er jemals daran gezweifelt hat, dass meine Mutter die ideale Partnerin für ihn war. Ob er sich je nach einer anderen gesehnt hat.
»Was soll ich mich jemals gefragt haben?«, will er wissen.
»Schon gut«, sage ich, weil ich glaube, die Antwort bereits zu kennen. Natürlich hat er nie gezweifelt. Für beide war es Liebe auf den ersten Blick, und sie haben nie zurückgeschaut.
Ich gehe in mein Zimmer und öffne meinen Schrank. Früher habe ich die Puderdose und das Gedicht darin aufbewahrt. Jetzt ist er leer, abgesehen von Kleidern, Schuhen und dem kleinen gerahmten Muster meines Bankettkleides. Ich weiß nicht, wo mein Silberetui ist, und gerate in Panik. Haben die Funktionäre es versehentlich mitgenommen, als sie die Artefakte eingesammelt haben? Nein, natürlich nicht. Die Silberetuis kennen sie. Sie würden sie nie mit einem Gegenstand aus der Vergangenheit verwechseln. Die Bankett-Etuis sind ein Gegenstand für die Zukunft.
Ich wühle durch meine wenigen Habseligkeiten, als meine Mutter ins Zimmer kommt. Sie ist gestern Abend spät von ihrer dritten Reise über die Grenzen Orias hinaus zurückgekehrt. »Suchst du etwas?«, fragt sie.
Ich richte mich auf. »Schon gefunden«, sage ich und halte die grüne Stoffprobe unter dem Glas hoch. Ich möchte ihr nicht gestehen, dass ich das Paarungsbankett-Etui nicht finde.
Sie nimmt mir das gerahmte Muster aus der Hand und hält es hoch. Der grüne Stoff reflektiert das Licht. »Hast du gewusst, dass es früher Fenster mit farbigem Glas gegeben hat?«, fragt sie. »Die Menschen haben damit die Gebäude geschmückt, in denen sie ihre Religion ausgeübt haben. Manchmal auch ihre eigenen Häuser.«
»Bleiglas«, sage ich. »Papa hat mir davon erzählt.« Ich stelle es mir wirklich schön vor: Licht, das durch Farbe fällt, Fenster
Weitere Kostenlose Bücher