Die Auswahl. Cassia und Ky
die Angst, es nicht rechtzeitig zu schaffen. Doch selbst wenn in diesem Moment die Trillerpfeife ertönte, würde ich sie nicht hören, so laut klingt mir das Klopfen unserer Herzen und das Geräusch unseres Atems in den Ohren – ein, aus, ein, aus, dieselbe Luft. »Ich hatte Angst gestern.«
»Wovor?«
»Dass wir uns nur wegen der Funktionäre ineinander verliebt haben«, antworte ich. »Sie haben dir von mir erzählt. Aber sie haben auch
mir
von
dir
erzählt, am Morgen nach meiner Paarung, als dein Bild versehentlich auf meinem Mikrochip erschien. Du und ich, wir haben uns vorher schon so lange gekannt, aber wir sind nie aufeinander aufmerksam geworden, bis …« Ich bringe es nicht fertig, meinen Satz zu beenden, aber Ky weiß, was ich meine.
»Aber du kannst doch nicht etwas wegwerfen, nur weil die es vorausgesagt haben!«, protestiert er.
»Ich will mich aber auch nicht durch ihre Auswahl bestimmen lassen«, erwidere ich.
»Das wirst du nicht«, sagt er. »Du bist niemals gezwungen, dich danach zu richten.«
»Sisyphus und der Stein«, murmele ich nachdenklich. Großvater hätte den Sinn dieser Geschichte erkannt. Er rollte den Stein, er lebte das Leben, das die Gesellschaft für ihn geplant hatte, aber seine Gedanken waren frei.
Ky lächelt. »Genau. Aber
wir
«, sagte er und zieht sanft an meiner Hand, »werden es bis zum Gipfel schaffen. Und vielleicht sogar eine Minute lang dort oben stehen bleiben. Komm schon!«
»Ich muss dir aber noch etwas sagen«, erwidere ich.
»Geht es um die Sortierung?«, fragt er.
»Ja …«
Ky unterbricht mich. »Das hat man uns schon erklärt. Ich gehöre zu der Gruppe, die eine neue Arbeitstelle erhalten wird. Ich weiß es schon.«
Weiß
er es? Weiß er, dass er nicht sehr lange zu leben hat, wenn er weiterhin in der Nahrungsentsorgung arbeitet? Weiß er, dass er genau zwischen denen stand, die bleiben müssen, und denen, die versetzt werden? Weiß er, was ich getan habe?
Er liest die Frage in meinen Augen. »Ich weiß, dass du uns in zwei Gruppen einteilen musstest. Und dass ich wahrscheinlich genau zwischen den beiden stand.«
»Weißt du, was ich getan habe?«
»Ich kann es mir denken«, antwortet er. »Sie haben dir von der geringeren Lebenserwartung und dem Gift erzählt, oder? Deswegen hast du mich in die Gruppe der Besseren eingeteilt?«
»Ja«, gestehe ich. »Du weißt also von dem Gift?«
»Natürlich. Die meisten von uns können es sich denken. Aber keiner von uns ist in der Position, sich zu beschweren. Unsere Lebenserwartung hier ist immer noch höher als in den Äußeren Provinzen.«
»Ky.« Es fällt mir schwer, ihn danach zu fragen, aber ich muss es wissen. »Gehst du weg?«
Er blickt auf. Über uns steigt mächtig und golden die Sonne am Himmel empor. »Ich weiß es nicht. Sie haben uns noch nichts gesagt. Aber ich weiß, dass wir nicht mehr viel Zeit haben.«
Als wir den Gipfel erreichen, fühlt es sich einerseits ganz neu, andererseits aber auch vertraut an. Er ist immer noch Ky. Ich bin immer noch Cassia. Aber wir stehen zusammen an einem Ort, an dem keiner von uns je zuvor gewesen ist.
Es ist dieselbe Landschaft, grau und blau, grün und gold, die ich mein ganzes Leben lang gesehen habe. Dieselbe Landschaft, die ich von Großvaters Fenster und vom kleineren Hügel aus erblickt habe. Aber jetzt stehen wir höher. Wenn ich Flügel hätte, würde ich sie ausbreiten. Ich könnte davonfliegen.
»Ich möchte dir das hier geben«, sagt Ky und überreicht mir sein Artefakt.
»Aber ich weiß nicht, wie man es benutzt«, erwidere ich, weil ich nicht zeigen will, wie gern ich sein Geschenk annehmen möchte. Wie schmerzlich ich mich danach sehne, etwas zu besitzen, das ein Teil seines Lebens, ein Teil von ihm ist!
»Ich glaube, Xander könnte es dir beibringen«, sagt er sanft, und ich halte den Atem an. Heißt das, er sagt mir auf Wiedersehen? Will er damit ausdrücken, dass ich Xander vertrauen soll? Mit Xander zusammen sein soll?
Doch bevor ich ihn fragen kann, zieht Ky mich an sich und flüstert mir sanft ins Ohr: »Es wird dir helfen, mich zu finden – falls ich jemals fortgehen muss.«
Mein Gesicht passt genau in die Kuhle unterhalb seiner Schulter, in die Beuge seines Halses, wo ich seinen Herzschlag hören und den Geruch seiner Haut einatmen kann. Hier bin ich sicher. Mein innerster Kern fühlt sich bei Ky geborgener als irgendwo sonst.
Ky drückt mir noch ein Stück Papier in die Hand. »Der letzte Teil meiner Geschichte«, sagt
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