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Die Auswahl. Cassia und Ky

Titel: Die Auswahl. Cassia und Ky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ally Condie
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schmutzige Alubehälter auszuwaschen? Warum trägt er Handschellen? Hat er versucht, sich gegen sie zu wehren?
    Haben sie den Kuss gesehen? Passiert es deswegen?
    Ich sehe den Airtrain über die Gleise zur Haltestelle gleiten, aber es ist nicht der Zug, den wir normalerweise nehmen, der silbrig-weiße. Es ist der aschgraue Langstreckenzug, der nur vom Stadtzentrum aus verkehrt. Ich höre ihn kommen – er dröhnt tiefer und lauter als der weiße.
    Irgendetwas stimmt hier nicht.
    Wenn ich es jetzt noch nicht gemerkt hätte, hätte mir spätestens Kys Schrei die Augen geöffnet, als sie ihn die Treppe hinaufschubsen. Denn gerade hier, vor diesen Leuten, verlassen ihn all seine Überlebensinstinkte, und ein anderer Instinkt gewinnt die Oberhand.
    Er ruft meinen Namen.
»Cassia!«
    Dieses eine Wort sagt alles aus: dass er mich liebt. Dass er Angst hat. Und ich höre das Lebewohl, das er mir schon gestern auf dem Hügel sagen wollte. Er wusste es. Er wird nicht einfach zu einer neuen Arbeitstelle gebracht, sondern irgendwohin, von wo er nicht glaubt, jemals wiederzukehren.
    Ich höre Schritte hinter mir, leise auf dem Gras, und Schritte vor mir, hart auf dem Metall. Ich werfe einen Blick zurück und sehe einen Polizisten hinter mir herrennen, ich sehe nach vorn, und ein Funktionär eilt die Metalltreppe hinunter. Aida schreit nicht mehr, und jetzt wollen sie mich genauso zum Schweigen bringen wie sie.
    Ich kann ihn nicht erreichen. Nicht auf diese Art und Weise. Nicht jetzt. An dem Funktionär auf der Treppe komme ich nicht vorbei. Ich bin nicht stark genug, um es mit ihm aufzunehmen, und auch nicht schnell genug, um ihnen zu entkommen …
    Geh nicht gelassen.
    Ich weiß nicht, ob Ky mir irgendwie diesen Gedanken übermittelt, ob die Worte von selbst in mir aufkommen oder ob Großvater doch irgendwo da draußen in der verblassenden Nacht wartet und die Worte in den Wind ruft, Worte mit Flügeln wie Engel.
    Ich schlage einen Haken in die Richtung der Haltestelle und stürme über den Beton. Ky erkennt, was ich vorhabe, und reißt sich los, mit einer abrupten Bewegung, die ihm eine Sekunde der Freiheit schenkt, bevor ihre Hände ihn wieder umklammern.
    Das genügt.
    Für einen Moment lehnt er sich über die Brüstung der erleuchteten Haltestelle und ich sehe, was ich sehen musste. Seine Augen, leuchtend von Leben und Feuer, und ich weiß, dass er nicht aufhören wird zu kämpfen – selbst wenn es ein stiller, innerer Kampf ist, der von außen nicht immer erkennbar ist. Und auch ich werde nicht aufhören zu kämpfen.
    Die Rufe der Funktionäre und das Rauschen des herannahenden Zuges, der schließlich abbremst und hält, würde meine Worte übertönen. Ky könnte nichts von dem hören, was ich sagte.
    Daher zeige ich inmitten dieses Lärms zum Himmel. Ich hoffe, er versteht, was ich meine, weil ich so vieles damit sagen will:
Mein Herz wird immer deinen Namen fliegen. Ich werde nicht gelassen gehen.
Ich werde einen Weg finden, um mich in die Lüfte zu erheben wie die Engel in den alten Geschichten, und ich werde dich finden.
    Als er mir tief in die Augen sieht, weiß ich, dass er mich verstanden hat. Seine Lippen bewegen sich lautlos, und ich sehe, was er sagt: die Worte eines Gedichts, das nur zwei Menschen auf der ganzen Welt kennen.
    Mir kommen die Tränen, aber ich blinzele sie weg. Denn wenn es einen Moment in meinem Leben gibt, den ich klar sehen will, dann diesen.

    Der Polizist erreicht mich als Erster, fasst mich am Arm und zerrt mich zurück.
    »Lassen Sie sie in Ruhe!«, herrscht mein Vater ihn an. Ich hatte keine Ahnung, dass er so schnell rennen kann. »Sie hat nichts getan.« Meine Mutter und Bram kommen quer über den Rasen auf uns zugelaufen. Xander und seine Familie folgen.
    »Sie verursacht eine Störung«, erwidert der Polizist grimmig.
    »Natürlich!«, gibt mein Vater scharf zurück. »Einer ihrer besten Freunde wird gerade im frühen Morgengrauen weggebracht, und seine Mutter läuft schreiend hinter ihm her! Was ist hier los?«
    Als ich höre, wie energisch die Stimme meines Vaters klingt, als er mutig diese Frage stellt, werfe ich meiner Mutter einen kurzen, fragenden Blick zu. Aber sie sieht ihren Mann nur voller Stolz an.
    Zu meiner Überraschung mischt sich auch Xanders Vater ein. »Wo wird der Junge hingebracht?«
    Jetzt ergreift der Funktionär im weißen Mantel das Wort. Mit lauter Stimme, so dass ihn jeder in der Menge der Zuschauer verstehen kann, verkündet er förmlich: »Wir bedauern die

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