Die Auswahl. Cassia und Ky
er. »Kannst du ihn dir für später aufbewahren? Sieh ihn dir jetzt noch nicht an.«
»Warum nicht?«
»Warte einfach«, bittet er mich leise und eindringlich. »Warte noch ein bisschen.«
»Ich habe auch etwas für dich«, sage ich, löse mich ein wenig von ihm und greife in meine Tasche. Ich gebe ihm das Stück Stoff, die grüne Seide meines Kleides.
Er hält sie neben mein Gesicht, um sich vorzustellen, wie ich am Abend des Paarungsbanketts ausgesehen habe. »Wunderschön«, sagt er sanft.
Auf dem Gipfel des Hügels nimmt er mich in die Arme. Von hier oben aus kann ich Wolken, Bäume, die Kuppel der Stadthalle und die winzigen Häuser der Wohnviertel in der Ferne erkennen. Für einen kurzen Moment sehe ich das alles, meine Welt. Dann sehe ich wieder Ky an.
Ky sagt: »Cassia«, und schließt die Augen, und ich schließe meine, damit ich ihm in der Dunkelheit begegnen kann. Ich spüre seine Arme um mich und die glatte grüne Seide, als er seine Hand auf meinen unteren Rücken presst und mich noch fester an sich zieht, und noch fester. »Cassia«, sagt er noch einmal leise, so nah, dass sich unsere Lippen berühren, endlich. Endlich.
Vielleicht wollte er noch mehr sagen, aber als sich unsere Lippen finden, ist dieses eine Mal jedes weitere Wort überflüssig.
KAPITEL 29
W ieder gellt lautes Kreischen durch unser Wohnviertel, aber diesmal stammt es tatsächlich von einem Menschen.
Ich öffne die Augen. Es ist so früh am Morgen, dass der Himmel noch mehr schwarz als blau und der dünne helle Streifen des Morgengrauens am Horizont eher Versprechen als Wirklichkeit ist.
Meine Tür wird aufgerissen, und in dem hellen Rechteck der Tür sehe ich meine Mutter stehen. »Cassia!«, stößt sie erleichtert hervor, und dann wendet sie sich um und ruft meinem Vater zu: »Es geht ihr gut!«
»Bram auch!«, ruft mein Vater zurück, und dann eilen wir alle in die Diele und zur Haustür, denn draußen auf der Straße schreit jemand, und dieser Laut ist so ungewöhnlich, dass er uns im Innersten trifft. Obwohl wir in der Ahorn-Siedlung nicht oft Schmerzensschreie hören, ist unser Instinkt, dem Betroffenen zu Hilfe zu eilen, noch nicht aus uns herausgepaart worden.
Mein Vater stößt die Tür auf, und wir blicken alle hinaus auf die Straße.
Der Schein der Straßenlaternen wirkt gedämpft. Die Mäntel der Funktionäre sind stumpf und grau. Sie gehen schnell und führen eine Gestalt in ihrer Mitte mit sich. Hinter ihnen folgen noch mehrere andere Gestalten – Polizisten.
Und noch jemand, schreiend. Sogar im schummrigen Laternenlicht erkenne ich sie. Aida Markham. Eine Frau, die im Leben bereits großen Schmerz ertragen musste und ihn nun wieder ertragen muss, als sie hinter der von Funktionären und Polizisten umringten Person herläuft.
Ky.
»Ky!«
Zum ersten Mal in meinem Leben renne ich, so schnell ich kann, und das in der Öffentlichkeit. Kein Laufband, das mich bremst, keine Zweige, die mich aufhalten. Meine Füße fliegen über den Rasen und den Beton. Ich renne durch die Vorgärten unserer Nachbarn, trampele durch die Blumenbeete und versuche, die Gruppe einzuholen, die zur Airtrain-Haltestelle unterwegs ist. Ein Polizist löst sich von der Gruppe und eilt auf Aida zu. Sie erregt zu viel Aufmerksamkeit. Überall öffnen sich die Haustüren, und die Leute stehen auf den Treppen und beobachten, was geschieht.
Ich renne noch schneller. Meine Füße treffen auf das scharfe, kühle Gras von Ems Rasen.
Nur noch ein paar Häuser weiter!
»Cassia?«, ruft Em vom Hausflur aus. »Wo willst du hin?«
Ky hat mich wegen Aidas Schreien nicht gehört. Sie haben schon fast die Treppe erreicht, die hinauf zur Haltestelle führt. Als sie unter der Laterne am Fuß der Treppe hindurchgehen, sehe ich, dass Kys Hände gefesselt sind.
Genau wie auf dem Bild.
»Ky!«, brülle ich wieder, und jetzt hebt er ruckartig den Kopf. Er wendet mir das Gesicht zu, aber ich bin nicht nahe genug, um seine Augen sehen zu können. Ich muss seine Augen sehen!
Noch ein Polizist löst sich von der Gruppe und kommt in meine Richtung. Ich hätte mit dem Ruf warten sollen, bis ich näher dran bin, aber ich bin immer noch schnell. Fast bin ich da.
Ein Teil meines Verstands versucht zu begreifen, was da geschieht.
Bringen sie ihn zu seiner neuen Arbeitsstelle? Aber wenn ja, warum dann so früh am Morgen? Warum schreit Aida dann so? Müsste sie nicht glücklich darüber sein, dass er eine neue Chance erhält, etwas Besseres zu tun, als
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