Die Auswahl. Cassia und Ky
hat sich ein Stück Kuchen auf einen Teller gelegt und hält ihn in der Hand, während wir uns die Bilder auf dem Mikrochip ansehen. Über das weiße Porzellan läuft eine Spur Obstsaft, ohne dass er es bemerkt. Als er aufsteht, um Großvaters Gäste zu verabschieden, läuft ein kleiner Tropfen über den Rand und fällt zu Boden. »Vielen Dank, dass Sie gekommen sind«, sagt mein Vater, und meine Mutter bückt sich schnell, um den Tropfen mit ihrer Serviette wegzuwischen. Ein anderer wird nach Großvater die Wohnung beziehen, und vermutlich legt er keinen Wert darauf, Reste vom Abschiedsbankett seines Vorgängers zu entdecken. Doch dann wird mir klar, dass das gar nicht der eigentliche Grund war: Sie möchte meinem Vater einfach jede Unannehmlichkeit ersparen, und sei sie noch so klein.
Sie nimmt meinem Vater den Teller ab, als sich die Tür hinter dem letzten Gast schließt. »Zeit für die Familie«, sagt sie, und mein Großvater nickt.
»Zum Glück«, sagt er. »Denn ich möchte noch mit jedem von euch sprechen.«
Bisher hat sich Großvater ganz normal verhalten, abgesehen von dem Moment, in dem er über das Jenseits spekuliert hat. Ich habe gehört, dass die alten Leute am Ende manchmal überraschend reagieren und nicht in Würde sterben wollen. Sie weinen, regen sich auf und spielen verrückt. Aber damit bekümmern sie nur ihre Familie. Und niemand kann daran etwas ändern. So ist es nun einmal.
In wortlosem Einverständnis gehen meine Mutter, Bram und ich in die Küche, damit mein Vater zuerst mit Großvater reden kann. Bram, der müde und mit Leckereien vollgestopft ist, legt den Kopf auf den Tisch und fängt leise an zu schnarchen. Meine Mutter streicht mit einer Hand über sein lockiges braunes Haar, und ich stelle mir vor, dass Bram von noch mehr Süßigkeiten träumt, einem Teller mit einem ganzen Berg davon. Auch meine Lider werden schwer, aber ich will keinen Augenblick von Großvaters letztem Tag versäumen.
Nach meinem Vater kommt Bram an die Reihe, und dann geht meine Mutter hinein, um mit meinem Großvater zu reden. Ihr Geschenk ist ein Blatt von seinem Lieblingsbaum im Arboretum. Sie hat es gestern gepflückt, deswegen sind die Ränder schon aufgerollt und bräunlich, aber in der Mitte ist es noch grün. Während Bram geschlafen hat, hat sie mir erzählt, dass Großvater angefragt hatte, ob er seine Abschiedsfeier im Arboretum unter freiem Himmel halten könne. Doch natürlich ist sein Antrag abgelehnt worden.
Ich bin als Letzte an der Reihe. Als ich den Raum betrete, stelle ich fest, dass die Fenster weit geöffnet sind. Die Nachmittagsbrise, die durch die Wohnung weht, ist drückend und heiß. Doch bald kommt der Abend, und dann wird es kühler werden.
»Ich wollte den Wind spüren«, erklärt mir Großvater, als ich mich auf den Stuhl neben seinem Bett setze.
Ich gebe ihm mein Geschenk. Er bedankt sich und liest den Brief durch.
»Das sind schöne Worte«, sagt Großvater. »Edle Gefühle.«
Ich sollte mich freuen, aber ich weiß, dass er noch etwas hinzufügen wird.
»Aber keine dieser Worte sind deine eigenen, Cassia«, sagt Großvater sanft.
Tränen steigen in mir auf, und ich blicke hinunter auf meine Hände. Diese Hände, die, wie bei fast allen in der Gesellschaft, nicht schreiben können, die nur die Worte anderer verwenden können. Worte, die meinen Großvater enttäuscht haben. Ich wünschte, ich hätte einen Stein mitgebracht, wie Bram. Oder gar nichts. Selbst wenn ich mit leeren Händen gekommen wäre, wäre es besser gewesen, als Großvater zu enttäuschen.
»Du besitzt aber eigene Worte, Cassia«, sagt Großvater zu mir. »Ich habe einige von ihnen gehört, und sie sind wundervoll. Du hast mich schon damit beschenkt, indem du mich so oft besucht hast. Ich freue mich trotzdem sehr über diesen Brief, weil er von dir stammt. Ich möchte dich nicht verletzen. Ich möchte nur, dass du auf deine eigenen Worte vertraust. Verstehst du?«
Ich hebe den Kopf, begegne seinem Blick und nicke, weil ich weiß, dass er das von mir erwartet, und das kann ich ihm schenken, auch wenn mein Brief ein Fehlschlag war. Dann fällt mir etwas anderes ein. Seit jenem Tag im Airtrain bewahre ich den Pappelsamen in der Tasche meiner Zivilkleidung auf. Ich hole ihn heraus und gebe ihn ihm.
»Ah«, sagt er und hält ihn hoch, um ihn besser betrachten zu können. »Danke, mein Schatz. Sieh mal, als feiere die Natur im Festtagskleid.«
Jetzt frage ich mich, ob Großvater doch schon ein bisschen
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