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Die Auswahl. Cassia und Ky

Titel: Die Auswahl. Cassia und Ky Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ally Condie
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darauf, mit ein paar anderen Leuten in der Konzerthalle zu sitzen und die Hundert Lieder zu hören, die von irgendwo anders her eingespielt werden – vielleicht sogar aus einer anderen Zeit. Ich kann mich nicht erinnern, je von einem Arbeitsplatz gehört zu haben, der etwas mit Musik zu tun hat. Aber vielleicht liegt das in der Natur der Sache. Vielleicht sollten Lieder nur einmal gesungen, aufgenommen und weitergegeben werden.
    »Also lasst uns zur Vorführung gehen«, sagte Xander. »In die eine, über die Gesellschaft, wisst ihr noch, die mit den vielen Luftaufnahmen?«
    »Die habe ich noch nicht gesehen«, sagt Ky Markham hinter mir.
    Ky.
Ich drehe mich um und sehe ihn an, und zum ersten Mal seit jenem Abend, an dem ich auf die Tabletten getreten bin, treffen sich unsere Blicke. Seitdem habe ich ihn nicht mehr gesehen. Oder besser: Ich habe ihn nicht mehr persönlich gesehen. Aber die ganze Woche über ist sein Gesicht immer wieder genauso unerwartet in meinen Gedanken aufgetaucht wie neulich auf dem Bildschirm, überraschend deutlich, und im nächsten Moment war es wieder verschwunden. Ich frage mich, was das zu bedeuten hat. Warum ich andauernd an ihn denke, anstatt ihn einfach zu vergessen und nach vorne zu schauen.
    Vielleicht liegt es an dem, was Großvater mir zum Schluss gesagt hat. Dass es in Ordnung sei, Fragen zu stellen. Obwohl ich irgendwie nicht glaube, dass er damit Ky gemeint hat. Ich glaube, er meinte etwas Wichtigeres. Etwas, das mit der Poesie zu tun hat.
    »Dann ist ja alles klar. Die sehen wir uns an«, sagt Sera.
    »Wie konntest du eine ganze Vorführung verpassen?«, fragt Piper. Eine gute Frage. Wir versäumen nie eine neue Vorführung, aber diese läuft schon seit mehreren Monaten. Ky muss oft genug die Gelegenheit gehabt haben, sie sich anzusehen. »Warst du nicht dabei, als wir sie uns angesehen haben?«
    »Nein«, erwidert Ky. »Ich glaube, ich musste an dem Abend länger arbeiten.« Seine Stimme klingt sanft, aber wie immer schwingt darin ein tiefer, sonorer Ton mit. Sein Timbre unterscheidet sich von den Stimmen der anderen – eine Eigenschaft, die man vergisst, bis man die Stimme wieder hört und denkt:
O ja. Wie schön sie doch klingt.
    Wir alle schweigen, wie immer, wenn Ky von seiner Arbeit spricht. Wir wissen einfach nicht, was wir sagen sollen, wenn er sie erwähnt. Inzwischen kann ich mir denken, dass er wahrscheinlich nicht überrascht war, die Anstellung in der Nahrungsentsorgung zu erhalten. Er muss immer gewusst haben, dass er eine Aberration ist. Er trägt schon viel länger Geheimnisse mit sich herum als ich.
    Aber bei ihm ist es etwas anderes, denn die Gesellschaft will ja, dass er seine Geheimnisse für sich behält. Ich weiß nicht, was sie mit mir anstellen würden, wenn sie meine entdeckten.
    Ky wendet den Blick von Piper ab und sieht wieder mich an. Mir fällt auf, dass ich mich in seiner Augenfarbe getäuscht habe. Ich dachte, er hätte braune Augen, aber jetzt sehe ich, dass sie dunkelblau sind, eine Farbe, die durch seine Zivilkleidung noch verstärkt wird. Blau ist die häufigste Augenfarbe in der Provinz Oria, aber irgendetwas an seinen Augen ist anders, wenn ich auch nicht weiß, was genau. Liegt mehr Tiefe in ihnen? Ich frage mich, was er sieht, wenn er mich betrachtet. Wenn ich glaube, dass er Tiefe besitzt, erscheine ich ihm dann oberflächlich und leicht durchschaubar?
    Ich wünschte, ich hätte einen Mikrochip über Ky
, denke ich
. Da ich ja keinen über Xander brauche, könnte ich vielleicht um einen über ihn bitten
. Bei diesem Gedanken muss ich unwillkürlich lächeln.
    Ky sieht mich immer noch an, und einen Moment lang hoffe ich, dass er mich fragt, woran ich denke. Aber natürlich tut er das nicht. Er lernt nicht, indem er Fragen stellt. Er ist eine Aberration aus den Äußeren Provinzen und hat es trotzdem geschafft, sich hier anzupassen. Er lernt durch Beobachtung.
    Also folge ich seinem Beispiel. Ich stelle keine Fragen und behalte meine Geheimnisse für mich.

    Im Kino geht Piper zuerst durch die Reihen, dahinter folgen Sera, Em, Xander, ich und zuletzt Ky. Die Leinwand wurde noch nicht heruntergelassen und das Licht noch nicht gedimmt, so dass wir uns noch ein paar Minuten unterhalten können.
    »Wie geht es dir?«, flüstert mir Xander ins Ohr. »Es liegt nicht an den Tabletten, oder? Bist du traurig wegen deines Großvaters?«
    Er kennt mich durch und durch. »Ja«, sage ich, und er nimmt meine Hand und drückt sie. Es kommt mir seltsam

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