Die Auswahl. Cassia und Ky
Hause kam, erzählte er mir, er habe ihn unter einem Baum gefunden, in einem Haufen weicher grüner Fichtennadeln, die wie ein Nest aussahen.
»Er wird sich sehr darüber freuen«, sage ich zu Bram.
»Über dein Geschenk aber auch.« Bram umschließt den Stein wieder mit seiner Faust. Die Türen gleiten auf, und wir treten hinaus in den Flur.
Mein Geschenk für Großvater ist ein Brief. Ich bin heute Morgen früh aufgestanden und habe im Brieferstellungsprogramm des Terminals gefühlvolle Worte gesucht, sie ausgeschnitten, zusammengefügt und aneinanderkopiert. Bevor ich den Brief ausdruckte, fand ich noch ein Gedicht aus dem Jahrzehnt, in dem Großvater geboren wurde, und fügte es hinzu. Nicht viele Leute interessieren sich für Poesie, nachdem sie mit der Schule fertig sind, aber für Großvater war sie immer wichtig. Er hat jedes der Hundert Gedichte zigmal gelesen.
Eine der Türen am Flur wird geöffnet, und eine alte Frau steckt den Kopf heraus. »Sie gehen zum Bankett von Mr. Reyes?«, fragt sie und wartet eine Antwort erst gar nicht ab. »Es ist privat, oder?«
»Ja, das ist es«, antwortet mein Vater und bleibt höflich stehen, um mit ihr zu reden, obwohl ich weiß, wie sehr er darauf brennt, seinen Vater zu sehen. Unwillkürlich blickt er den Flur hinunter zu Großvaters geschlossener Tür.
Die Frau murrt: »Ich wünschte, es wäre öffentlich. Dann könnte ich hingehen und mir schon einmal einen Eindruck verschaffen. Meins ist in zwei Monaten, und Sie können darauf wetten, dass es öffentlich sein wird.« Sie lacht auf, kurz und barsch, und fragt dann: »Könnten Sie vielleicht hinterher vorbeikommen und mir erzählen, wie es gewesen ist?«
Meine Mutter kommt meinem Vater zu Hilfe, wie sie es oft füreinander tun. »Vielleicht«, sagt sie lächelnd, nimmt meinen Vater an der Hand und kehrt der Frau den Rücken zu.
Wir hören einen enttäuschten Seufzer und dann ein Klicken hinter uns, als die Frau die Tür schließt. Auf dem Namensschild steht »Mrs. Nash«, und ich erinnere mich daran, dass Großvater von ihr erzählt hat. Neugierig fand er sie.
»Kann sie nicht warten, bis es bei ihr so weit ist, anstatt an Großvaters Tag darüber zu reden?«, murmelt Bram und öffnet die Tür zu Großvaters Wohnung.
Schon jetzt fühlt es sich hier anders an. Stiller. Einsamer. Ich glaube, es liegt daran, dass Großvater nicht mehr am Fenster sitzt. Heute liegt er in einem Bett im Wohnzimmer, während sein Körper allmählich seine Funktionen einstellt. Genau zum geplanten Zeitpunkt.
»Könntet ihr mich bitte ans Fenster schieben?«, fragt Großvater, nachdem er uns alle begrüßt hat.
»Sicher.« Mein Vater packt eine Ecke des Bettes und zieht es mit Leichtigkeit in das frühe Morgenlicht. »Weißt du noch, wie du das früher für mich getan hast? Als ich als Kind diese ganzen Impfungen bekommen habe?«
Großvater lächelt. »Das war in einer anderen Wohnung.«
»Mit einer anderen Aussicht«, stimmt mein Vater zu. »Alles, was ich von meinem Fenster aus sehen konnte, war der Garten der Nachbarn und die Gleise des Airtrains – aber nur, wenn ich den Kopf hoch genug reckte.«
»Aber darüber war der Himmel«, sagt Großvater leise. »Den Himmel kann man fast immer sehen. Was wohl dahinter liegt? Und dahinter?«
Bram und ich werfen uns einen Blick zu. Großvater ist heute wohl ein wenig durcheinander, was aber ganz natürlich ist. An dem Tag, an dem die älteren Leute achtzig werden, beschleunigt sich unweigerlich ihr Verfall. Nicht alle sterben genau zum selben Zeitpunkt, aber immer vor Mitternacht.
»Ich habe meine Freunde eingeladen vorbeizukommen, gleich nachdem das Komitee gegangen ist«, sagt Großvater. »Und wenn sie weg sind, würde ich mich gern mit jedem von euch einen Moment lang allein unterhalten. Zuerst mit dir, Abran.«
Mein Vater nickt. »Wie du willst.«
Das Komitee bleibt nicht lange. Es besteht aus drei Männern und drei Frauen in langen, weißen Laborkitteln, und auch sie haben einige Dinge mitgebracht. Großvaters Kleider für das Bankett. Ausrüstung für die Gewebekonservierung. Einen Mikrochip mit seiner Lebensgeschichte, die er sich auf dem Terminal ansehen kann.
Von diesem Mikrochip abgesehen, wird sich Großvater sicher mehr über unsere Geschenke freuen.
Nach einigen Augenblicken erscheint Großvater in seinen Bankettkleidern. Im Schnitt unterscheiden sie sich kaum von der normalen Zivilkleidung. Sie bestehen aus einer einfachen Hose, einem Hemd und Socken. Sie sind
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