Die Auswahl. Cassia und Ky
ihre Augen weiten sich dabei. Ihr Gesicht ist immer noch leicht gerötet von der vielen Arbeit draußen. Sie sieht ein wenig älter aus als sonst, und zum ersten Mal bemerke ich einige wenige graue Strähnen in ihren dichten blonden Haaren, die ersten Schatten im Sonnenlicht. »Es ist schon spät, Cassia. Du solltest längst schlafen. Und ich übrigens auch. Morgen früh erzähle ich Bram und dir alles.«
Ich protestiere nicht. Ich umschließe den Mikrochip mit der Hand und sage: »Ist gut.« Bevor ich in mein Zimmer zurückkehre, beugt sich meine Mutter zu mir und gibt mir einen Gutenachtkuss.
Zurück in meinem Zimmer lausche ich wieder an der Wand. Irgendetwas beunruhigt mich an dieser plötzlichen Dienstreise meiner Mutter. Warum ausgerechnet jetzt? Wohin fährt sie? Wie lange wird sie fort sein? Sie muss sonst fast nie beruflich verreisen.
»Und?«, fragt mein Vater im Wohnzimmer. Er versucht, leise zu sprechen. »Ist alles in Ordnung? Ich kann mich nicht daran erinnern, wann wir zuletzt so spät abends angerufen worden sind.«
»Ich weiß es nicht. Irgendetwas geht da vor sich, aber ich bin mir nicht sicher, was genau es ist. Jedenfalls müssen außer mir noch Mitarbeiter von anderen botanischen Gärten mitkommen, und gemeinsam sollen wir uns die Ernte in einem Arboretum in der Provinz Grandia ansehen.« Ihre Stimme klingt besonders melodisch, wie immer spätabends, wenn sie sehr müde ist. So klang sie auch früher immer, als sie mir abends Blumengeschichten erzählt und mich damit beruhigt hat. Wenn sie nicht beunruhigt ist, dann brauche ich mir auch keine Sorgen zu machen, sage ich mir. Meine Mutter gehört zu den klügsten Menschen, die ich kenne.
»Wie lange musst du weg?«, fragt mein Vater.
»Höchstens für eine Woche. Meinst du, Cassia und Bram kommen zurecht? Es ist eine ziemlich weite Reise.«
»Sie werden das schon verstehen.« Pause. »Cassia scheint immer noch böse zu sein. Wegen der Probe.«
»Ja, leider. Ich mache mir auch ein bisschen Sorgen.« Meine Mutter seufzt, leise zwar, aber ich höre es trotzdem durch die Wand. »Es war doch wirklich nur ein Versehen. Ich hoffe, dass sie es bald einsieht.«
Versehen? Aber es war doch gar kein Versehen
, denke ich. Dann wird mir klar:
Sie weiß es nicht. Er hat es ihr nicht erzählt. Mein Vater hat ein Geheimnis vor meiner Mutter.
Und dann kommt mir ein furchtbarer Gedanke.
Also ist ihre Partnerschaft gar nicht perfekt!
Schon im selben Moment würde ich diesen Gedanken am liebsten wieder verbannen. Denn wenn ihre Partnerschaft nicht perfekt ist, wie stehen dann die Chancen, dass meine es sein wird?
Am nächsten Morgen wirbelt das nächste Gewitter die Blätter der Ahornbäume durcheinander, und ein heftiger Schauer prasselt auf die Neorosen. Ich sitze gerade beim Frühstück – schon wieder Haferbrei, dampfend im Alubehälter –, als ich das Terminal verkünden höre:
Cassia Reyes, Ihre Freistundenbeschäftigung, das Wandern, fällt wegen schlechten Wetters aus. Bitte melden Sie sich stattdessen zum Zusatzunterricht an Ihrer Schule.
Kein Wandern. Das bedeutet: kein Ky.
Auf dem Weg zum Airtrain werde ich nass, und die ohnehin schon schwüle Luft wird durch den Regen noch drückender. Mein kupferfarbenes Haar lockt und verknotet sich, wie meist bei diesem Wetter. Ich blicke hinauf zum Himmel, sehe aber nur tiefhängende, dichte Wolken, keine Lücke.
Keiner von meinen Freunden fährt mit mir im selben Zug, weder Em, noch Xander, noch Ky. Entweder sie sind mit anderen Zügen gefahren, oder sie machen sich noch zu Hause fertig, aber irgendwie habe ich das Gefühl, etwas verpasst zu haben oder als fehle etwas. Als fehle
jemand
. Vielleicht liegt es an mir.
In der Schule angekommen, gehe ich hinauf in die Recherchebibliothek, wo mehrere Terminals stehen. Ich möchte mehr über Dylan Thomas und Alfred Lord Tennyson herausfinden. Vielleicht gibt es Gedichte von ihnen, die es in die Sammlung der Hundert geschafft haben. Ich glaube es zwar nicht, möchte aber sichergehen.
Meine Finger schweben über dem Bildschirm, doch ich zögere noch. Am schnellsten ginge es, wenn ich ihre Namen eintippte, aber es würde gespeichert werden, dass jemand nach ihnen gesucht hat. Und die Suche könnte bis zu mir zurückverfolgt werden. Nein, wesentlich sicherer ist es, die Liste der Dichter in der Hundert-Gedichte-Datenbank durchzugehen. Wenn ich mir einen Poeten nach dem anderen ansehe, wird das wie eine Aufgabe für den Unterricht aussehen und nicht so sehr
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